Ferdinand Ullrich

 

Stadt und Raum – Einige grundsätzliche Bemerkungen zum Werk von Gudrun Kemsa

 

Eine der ersten Fotografien überhaupt zeigt die Stadt mit Menschen – Pariser Häuser und einen Schuhputzer. Und nach 175 Jahren Fotografiegeschichte und angesichts der zunehmenden Verstädterung bleibt das Thema mehr denn je aktuell.

 

Gudrun Kemsa hat einen Großteil ihres Œuvres dem Thema gewidmet. In ihren Fotografien und Videos greift sie die Strukturen der Stadt auf und eröffnet zwischen der Horizontalen und Vertikalen der Architekturen die Bewegungsräume der Menschen. Dieser “Fluss des Lebens“ ist ohne vordergründige Dramaturgie. Dieser vorgeblichen Eintönigkeit einen Erkenntniswert abzuringen, gelingt der Künstlerin durch Ästhetisierung. Sie schafft Ordnung, indem sie das Blickfeld begrenzt, die Stadt als Bühne betrachtet, auf der Wirklichkeit als eine Inszenierung stattfindet.

 

Dies ist aber nur möglich, wenn man das fotografische Prinzip nicht auf das apparative Herstellen von "Abbildern" beschränkt. Es gilt, eigenwertige "Bilder" zu erschaffen, die nicht nur am Maßstab der "Wirklichkeitstreue" gemessen werden wollen. Mit der Erfindung der Fotografie hat man geglaubt, dass der Apparat selbst ohne jegliches Zutun das objektive Abbild einer äußeren Wirklichkeit wiedergibt. Jedoch wissen wir, dass hierfür mentale, soziale und technikgeschichtliche Voraussetzungen gegeben sind, die erst eine bestimmte Sicht hervorbringt.

 

Gudrun Kemsas Blick ist der eines Operateurs. Wie mit dem Seziermesser schneidet sie durch die Stadt und legt etwas offen, was in dieser Klarheit bisher ungesehen blieb.

 

Edgar Degas hat dem neuen, fotografischen Blick gehuldigt, indem er den Zufall und die Unzulänglichkeiten des Apparats malerisch kultiviert hat. Das, was bei ihm wie eine misslungene Fotografie erscheint, die Überschneidungen und Anschnitte, hat er zur wohlkomponierten Malerei transformiert, bei der jedes Detail, jeder Bildfleck so in seiner vermeintlichen Zufälligkeit gewollt ist.

 

Umgekehrt haben Gudrun Kemsas Zufälligkeiten eine derart strenge, gestalterische Folgerichtigkeit, dass man - trotz des Sujets und des Realismus - von Fotografie kaum sprechen mag. Nichts erscheint beiläufig, alles ist gesetzt. Selbst das natürliche Tageslicht scheint einer bewussten Lichtregie zu folgen.

 

Die Fotografie hat immer versucht, die Fläche zu relativieren, sie geradezu im Raum aufzuheben. Was seit der Renaissance nur mit höchster Kunstfertigkeit gelang, nämlich die „augenrichtige“ Konstruktion der äußeren Wirklichkeit auf der planen Fläche, ist das innerste Konstruktionsprinzip der Fotografie.

 

Vermeer van Delft hat wie kein anderer vor ihm, den Raum auf zweierlei Weise konstituiert: intellektuell im Modus der Zentralperspektive und emotional im Modus des Lichtes. Als Maler war ihm aber immer bewusst, dass er es mit der begrenzten Fläche zu tun hat und sich in einem Illusionsraum bewegt.

 

So kann man auch die Bildwerke von Gudrun Kemsa betrachten, gerade weil sie den Illusionismus des Raumes eher zurücknimmt. Ihre Szenen entwickeln sich bildparallel, wie auch die architektonischen Bildmotive die gesetzten Bildgrenzen eher bestätigen, als dass sie diese auflösen.

 

Die noch so zufällig erscheinende Konstellation von Figuren in ihrem Zusammenspiel mit der umgebenden Architektur ist in einer komplexen Choreographie arrangiert. Jede Fußstellung, jede Körperhaltung, jede Geste ist bildwürdig und bildlogisch und zugleich als mögliche Erzählung emotional aufgeladen.

 

Gudrun Kemsa schafft so auf der überschaubaren Fläche des Bildes Ordnung im Chaos der Erscheinungen unserer Zeit und unserer Welt.

 

Lit: Die Welt als Bühne, Wunderhorn Verlag, 2016