Klaus Honnef
Zu den fotografischen Bildern von Gudrun
Kemsa
Im Studium hat sie sich der Bildhauerei gewidmet. Karl Bobek und David Rabinowitch, der kanadische Plastiker, waren ihre Lehrer an der Kunstakademie zu Düsseldorf. Um die greifbare Gestalt von Körpern geht es in der Bildhauerei und auch um deren Verhältnis im und zum Raum. Von allen Disziplinen der Kunst war die Plastik stets die am wenigsten abstrakte. Gleichwohl verwirklicht Gudrun Kemsa ihre ästhetischen Vorstellungen in einem so immateriellen Medium wie der Fotografie. Ein größerer Gegensatz zur Bildhauerei ist schwerlich denkbar. An dem einen Pol künstlerischer Tätigkeit der Stoff, das Material, dessen Herausforderung ästhetisch bewältigt werden muß, am anderen ein "gestaltloses" Fluidum aus Licht und Schatten, flüchtig und im Augenblick vergänglich, das mit Hilfe chemischer Manipulationen auf sensibler Folie, zumeist Papier, festgehalten zu werden vermag. Was die Fotografie im Abbild fixiert, ist unweigerlich bereits vergangen, wenn der Aufnahmeprozeß vollendet, und anwesend ist es lediglich als etwas definitiv Abwesendes. Die Fotografie ist das Medium der verronnenen Zeit. Dagegen steht die Plastik für die Versammlung der Zeit in der scheinbaren Dauer von Gegenwart, steht für Körpergefühl, sinnliche Erfahrung, die sich nicht allein auf den puren Augenschein beschränkt, ja, sie steht obendrein für die vermeintlich unerschütterliche Identität des menschlichen Individuums, das sich angesichts einer - wie auch immer gearteten - Skulptur als eine Art Focus bewußt wird, in dem die unterschiedlichsten Erfahrungen, mitunter auch akustischen Erfahrungen gravitieren.
Im Laufe des Jahres 1989 fotografierte Gudrun Kemsa aus leichter Untersicht vier standardisierte,
rechteckige Betonplatten, deren obere Kante durch rechts und links vorgenommene Einschnitte kürzer war als die untere, ohne ihre spätere Funktion in einer offenbar noch unvollendenten Fabrikhalle
zu kennen. Das einfallende Licht, das augenscheinlich im Rücken der Fotografin seinen Ursprung hatte und frontal auf die Platten prallte, zerstäubte diese im fotografischen Widerschein förmlich
zu Milliarden von kleinsten Partikelchen, die wie die Kristalle eines Spiegel lediglich die Funktion erfüllen, das Licht zu reflektieren. Die stoffliche Qualität der Reflektoren ist verschwunden.
Übrig geblieben sind jeweils vier transparente, sich mählich schräg nach oben hin verjüngende Flächen, die ebenso gut den Blick der Betrachter des Bildes nach außen führen könnten, wie sie
tatsächlich das Licht nur zurückwerfen. Wer genauer hinsieht und die sparsamen Hinweise der Künstlerin auf die architektonische Situation des fotografischen Gegenstandes, der so offensichtlich
sämtlicher Gegenständlichkeit beraubt zu sein scheint, entziffert, erkennt, daß es sich nicht um ein Fenster, sondern um das Licht reflektierende "Schilde" handeln muß.
Das Licht bringt zwar erst den Raum hervor, wodurch anschauliche Erfahrung möglich wird, erschafft
mithin den Sehraum, schält sozusagen die "Gegenständlichkeit" im Raum dank modulierender Reflektion heraus - und betont somit ex negativo auch die Zwischenräume, die niemandem besonders auffallen
-, in den überformatigen fotografischen Bildern von Gudrun Kemsa verwandelt das Licht die Räumlichkeit der fotografierten Motive jedoch in eine Bildfläche aus teils geometrischen Formen. Mehr
noch: Je eindringlicher man sich mit ihren Bildern beschäftigt, desto stärker wird der Eindruck, als würde das Licht die räumliche Plastizität der fotografierten Gegenstände regelrecht aufsaugen
- oder vernichten.
Zu diesem Eindruck trägt natürlich die besondere Perspektive, genauer, der Aufnahmewinkel der
einzelnen Bilder bei. Selten richtet die Künstlerin ihre Kamera aus Augenhöhe auf das ausgewählte Bildmotiv. Wie etwa die Welt von den Malern der Renaissance über die fotografischen Künstler des
19.Jahrhunderts bis zu den klassischen Regisseuren des amerikanischen Films geschildert wurde. Doch in Betracht einer die menschlichen Proportionen schier sprengenden Architektur der modernen
Megalopolis des nach-industriellen Zeitalters entlarvt sich der frontale Blickwinkel aus Augenhöhe ohnehin als pure Fiktion. Die anthropologische Sicht schnurrt vor den zeitgenössischen
Wolkenkratzern zwangsläufig auf eine einschüchternde Frosch-Perspektive zusammen.
Gudrun Kemsa bewahrt bei der Definition ihres Standortes nichtsdestoweniger eine bewußte
Bodenhaftigkeit; nur gelegentlich begibt sie sich auf eine erhöhte Plattform; zumeist liegt sie auf der Erde, um ihren Blickwinkel auf die Dinge zu definieren. Darin manifestiert sich keineswegs
eine gewisse Verzagtheit, noch auch zielt die Künstlerin auf eine unangemessene Monumentalisierung der fotografisch wiedergegebenen Gegenstände; sondern sie gelangt, stets dem Licht auf der Spur,
so zu einer bildnerischen Struktur, die dessen unwiderstehliche Gewalt in Erscheinung treten läßt.
Denn eine Konsequenz dieses nach wie vor ungewöhnlichen Blickwinkels der Kamera von Gudrun Kemsa -
in den zwanziger Jahren eine Domäne der Avantgarde - ist eine außerordentliche Beschleunigung des zur Bildfläche entrollten Bildraums. Die Senkrechten der aufgenommenen Motive religiöser oder
profaner Architektur werden in ihren Aufnahmen zu Schrägen und Diagonalen, die Kreise bisweilen zu Ellipsen und die Rundungen zu geschwungenen Kurvaturen. Und indem sie die Panorama-Kamera
entgegen üblicher Praxis in vertikaler Richtung verwendet, "schießen" die engen Gassen von Genua zu schornsteinhohen Lichtöffnungen auf. Die ästhetischen Impulse des Neuen Sehens in der deutschen
Fotografie der zwanziger Jahre beeinflussen, wenn auch nur mittelbar, die fotografische Arbeit der Künstlerin, doch Gudrun Kemsa handhabt sie entschiedener in struktureller Hinsicht: Nicht der
frappierende formale Effekt interessiert sie, sondern die Veränderung der Wahrnehmung, die Irritation des verinnerlichten Raumgefühls, kurzum: die ungeheuerlich Dynamisierung des Sichtbaren.
"Licht, das auf eine Wand fällt, kann diese diaphan erscheinen lassen", notierte sie. Mit anderen Worten: Das Licht de-materialisiert die Wände kraft seiner
Geschwindigkeit.
"In der Relativitätstheorie betrachtet man die Lichtgeschwindigkeit als universelle Gegebenheit, die
nicht überschritten werden kann. Dreihunderttausend Kilometer pro Sekunde. Mir scheint, daß diese Lichtgeschwindigkeit zugleich auch Licht der Geschwindigkeit ist. Jede Geschwindigkeit wirft auf
etwas Licht. ...Befindet man sich in einem "Jet" oder einem Zug, so sieht man die Welt in einem anderen Licht. Das ist keine Frage der Lichtquelle, sondern eine Frage des Bezugs zur Welt, der
Weltanschauung. Die überflogene Welt ist eine Welt, die von der Geschwindigkeit produziert wird" (Paul Virilio und Sylvère Lotringer: Der reine Krieg, Berlin 1984, S. 85).
Gemessen an den ästhetischen Absichten der Künstlerin mag die Pointe des "Dromologen" (Dromos - von
griech. Straße) Virilio reichlich überzogen sein, andererseits stützen weitere signifikante Merkmale im fotografischen Werk von Gudrun Kemsa gleichwohl eine Interpretation unter dem Aspekt der
Geschwindigkeit. Nicht allein, daß die Bilder durchweg ihre Betrachter im Unklaren darüber lassen, wo sich ihre Position befindet, ob in einem Innen- oder einem Außenraum, so daß ihre Blicke
sowohl auf das abgebildete Motiv treffen wie umgekehrt das Motiv den Betrachtern seinen Blick zuwirft, sondern häufig weiß man auch nicht, in welchem Blickwinkel die Betrachter - also man selber
- zu den abgebildeten Gegenständen placiert sind. Bisweilen meint man, diese aus der Perspektive der Vögel anzuschauen, und zugleich fließen tatsächliche wie vermeintliche Blickwinkel ineinander
über. Darüber hinaus verändert sich mitunter der Charakter der Materialien, aus denen die fotografischen Motive gebildet werden, und ein Gebäude aus Stein, vielmehr dessen Ausschnitt, wirkt, als
sei es aus Metall errichtet. Daß konvexe Formen wie konkave aussehen und umgekehrt, die Kuppel von Kilise beispielsweise wie die Untersicht einer Schale, ist ein zusätzliches Mittel, um die
Betrachter der Bilder nachhaltig zu verstören. Gudrun Kemsa entwickelt eine Fülle von Möglichkeiten allgemeiner Verunsicherung. Und wenn man sich länger in die Bilder vertieft, beschleicht einen
das Gefühl, daß der Boden, auf dem man als Betrachter(in) fest verankert zu sein glaubt, unter den Füßen zu schwanken beginnt. Es stellt sich unwillkürlich der beunruhigende, nach dem Meister der
"Suspense" genannte Hitchcook-Effekt ein.
Obwohl die Künstlerin die Bezüge zur empirischen Wirklichkeit auf einen kleinen Rest reduziert,
kappt sie diese nicht zugunsten vorstellbarer abstrakter Bild-Lösungen. Der "Sinngehalt" (Roland Barthes) des Fotografischen bleibt in ihren Bildern erhalten. Darunter versteht Barthes die
Verbindung zur sichtbaren Welt. "Worauf ich mich in einer Photographie international richte... ist weder die KUNST noch die KOMMUNIKATION; sondern die REFERENZ, die das Grundprinzip der
PHOTOGRAPHIE darstellt" (Die helle Kammer, Frankfurt 1985, S. 87).
Immer wieder ragen Relikte des Realen in die Bilder hinein; in eine wie das Muster eines abstrakten
Bildes anmutende Fläche subtiler Schattierungen auf dem Grau der Schwarz-Weiß-Fotografie irgendwo am Rande die Buchstaben "Banque Worms"; oder in der Verkündigungskirche ein Leuchter, aus
extremer Untersicht erfaßt, den man allerdings auch für einen Ventilator halten könnte. Doch diese sparsamen Verweise steigern die Irritation eher, statt sie zu mindern. Das "irgendwo" des Ortes
der Aufnahme kann selbst dann, wenn die erklärende Legende des Bildes ein "hier" festlegt, in ein ortloses "nirgendwo" umklappen. Jener Mechanismus, der viele der Bilder in formaler Systematik
reguliert, ist gleichzeitig ihr vorherrschendes ästhetisches Prinzip. In der Geschwindigkeit des außerordentlich intensiven, des "brennenden" Lichts, das kein Betrachter mit bloßem Auge
wahrzunehmen imstande ist, es sei denn auf die Gefahr hin, zu erblinden, und das die Künstlerin durch Überbelichtung bei der Aufnahme und beim Abzug noch "beschleunigt", verschwinden die Körper
und die Territorien, die ihnen Halt und Grund geben. "Wir leben in einer Welt, die zu erkunden wir noch nicht gelernt haben", schrieb der französische Ethnologe Marc Augé (Orte und Nicht-Orte.
Vorübungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit, Frankfurt 1995).
Wenn er als den Höhepunkt einer jeden Reise "die Aufhebung des Ortes" markiert, so ist dies die -
bestürzende und erschreckende Erfahrung, welche Gudrun Kemsas fotografische Bilder vermitteln. In gewissem Sinne handelt es sich bei ihren wohlkalkulierten Aufnahmen um Reise-Bilder, obgleich
nicht im konventionellen Verständnis der Gattung. Mit der Erfahrung einer "Aufhebung des Ortes" korrespondiert die Situation des Transit-Reisenden, als den Paul Virilio den modernen Menschen
begreift, eines "Reisevoyeur", der nie ankommt, weil er sich in der Geschwindigkeit, die sich wie ein "umgekehrter Handschuh" ihm entgegenstülpt, auflöst. "Er selbst wird projeziert; als Akteur
und Zuschauer des Dramas der Projektion spielt er, solange die Reise währt, sein eigenes Ende" (Virilio, Der negative Horizont, Frankfurt 1995, S. 135 f.). In einigen Bildern von Gudrun Kemsa
tauchen Menschen auf, allerdings lediglich als Schemen, faktisch durch ihre Anwesenheit abwesend, körperlose Wesen, die das Licht im Medium Fotografie für den Bruchteil eines Augenblicks beim
Verschwinden ertappt. In der Umkehrung des üblichen Positiv-Negativ-Verfahrens, wie sie die Künstlerin in folgerichtiger Erkundung der fotografischen Bildsprache betreibt, geistern die
Menschenwesen als diaphane Erscheinungen auf dem schwarzen Bildgrund. Menschliche Abdrücke analog - fürchterlich die Parallelität der Erscheinung zu benennen - zu den Schatten, welche die
Menschen hinterlassen haben, die im Licht, "heller als tausend Sonnen, der Atombomben von Hiroshima und Nagasaki ausgelöscht wurden. Kein Zweifel: eine Kunst auf der Höhe der Zeit. Gudrun Kemsas
Bilder erschöpfen sich nicht in blanker Zuständlichkeit.
Bonn, im Mai 1995
Lit: Gudrun Kemsa, Fotoarbeiten, Regionalmuseum Xanten, 1995