Alice von Richthofen
Von der Düssel an den Tiber
Alice von Richthofen besuchte in Rom die Preisträgerin
Gudrun Kemsa Goethe fuhr vor zweihundert Jahren auf holprigen Wegen nach Italien, voll ungeduldiger Erwartung; nach 23 tagen in der Postkutsche erreichte er schließlich Rom. Inkognito und wie ein Italiener gekleidet, so war sein Wunsch, um unbemerkt, fei von Zwängen und Bindungen an die Heimat, in die südliche Umgebung vollkommen eintauchen zu können. Es war für ihn eine existentielle Erfahrung, die seine ganze Persönlichkeit neu strukturierte, eine durch sinnliche Eindrücke ausgelöste „Wiedergeburt".
Jahr für Jahr erhalten eine solche Chance zehn auserwählte deutsche Künstler aus verschiedenen Schaffensbereichen. In einer arkadischen Idylle, geschützt von hohen Mauern vor den Geräuschen der Stadt, bietet seit 1910 die Villa Massimo die Möglichkeit der konzentrierten Arbeit als auch des täglichen Erlebens von Zypressen und Zitronenbäumen, antiken Statuen und barocken Gemälden, engen Gassen und herrlichen Plätzen in der Ewigen Stadt. Ein im 19. Jahrhundert verwurzelter Idealist, der Berliner Industrielle und Kunstliebhaber Eduard Arnhold schenkte seinen Landsitz mit Park dem preußischen Staat und stiftete die Accademia Tedesca zur Forderung von „schaffensfreudigen Künstlerseelen" aus dem grauen Deutschland. Seit 1956 ist sie im Besitz der Bundesrepublik und wird vom Innenministerium aus dem fernen Bonn verwaltet. Zu den ehemaligen Stipendiaten zählen bekannte Namen wie Max Peiffer Watenphul, dessen Werk gerade mit einer Ausstellung in der Villa gewürdigt wurde.
Eine Jury sucht regelmäßig unter den Vorschlägen der Bundesländer die Rompreisträger aus, die bis zu zwölf Monaten in herrlicher Umgebung arbeiten können, dank öffentlicher Gelder entlastet von materiellen Sorgen (ein Stipendium von monatlich 1750 Mark wird geboten, freie Unterkunft in einem neugebauten Reihenhaus samt Atelier, Zuschuß für Materialkosten, Betreuung, Ausstellungs- und Kontaktförderung an Ort und Stelle durch den derzeitigen „Dienststellenleiter" Jürgen Schilling).
Rom scheint allerdings - wie auch bereits zur Gründungszeit der „Villa" um die Jahrhundertwende - keine entscheidenden Inspirationsquellen mehr für zeitgenössische Kreativität zu bieten. Paris, später New York, haben die antike Hauptstadt als Zentrum der künstlerischen Erneuerung längst abgelöst. Die Stadt steckt in tiefer Finanznot, kann sich nicht leisten, namhafte Künstler an ihre Akademie zu locken, um eine attraktive Avantgarde heranzubilden. Bildungsreisen wie im 18. Jahrhundert gehören der Vergangenheit an, und die Angst, während einer längeren Abwesenheit vom heimischen Kunstmarkt vergessen zu werden, wächst.
Wie lautet unter diesen Umständen die Bilanz einer Stipendiatin nach einjährigem Aufenthalt hinter den hohen Mauern; was erlebte die Fotografin aus Düsseldorf, Gudrun Kemsa, die im April das vielbegehrte Jahr in der Villa abschließen mußte? Die Absolventin der Düsseldorfer Kunstakademie - sie studierte bei Karl Bobek und David Rabinowitch, 1985 als Meisterschülerin - ist eine erfahrene Beobachterin von vielfältigen, fremden Kulturen: durch frühere Reisestipendien verbrachte sie bereits fruchtbare Arbeitszeiten in Italien, Israel, in der Türkei und den USA. Besonders in Istanbul, in New York aber auch im Pariser La-Défense-Viertel fand sie interessante Motive zu ihrem Hauptthema: die Fotografie von Architektur. „Die Beobachtung und das Wissen um die Entwicklung von Bauformen hat meine künstlerische Arbeit geprägt."
Durch Rom zu laufen, zu schauen und zu fotografieren, für sie ein Erlebnis, das sich immer wieder erneuert: die Kolonnaden von St. Peter mit der rhythmischen Bewegung von Licht und Schatten, die Variationen von Kuppeln mit Rundöffnungen, wie in den Diokletiansthermen oder im Pantheon, die verschiedensten Erfahrungen mit Hell-Dunkel-Verhältnissen in Außen- und Innenräumen boten Motive für Aufnahmen, die anschließend im Labor verändert, umgekehrt oder malerisch gesteigert wurden. In der römischen Umgebung konnte sie „die Wirkung des Raumes in Gewalt, Leichtigkeit, Bedrohlichkeit oder Offenheit, sozusagen als psychologische Wirkung auf den Menschen" erfassen. Es ging ihr niemals um reine Abbildung. Fotografie kann wohl als Medium zur Beobachtung dienen, aber auch - wie bei Gudrun Kemsa - zur Verwandlung des Gefühls von Raum und Material, zur Inszenierung von Licht, das selbst zur Materie wird. Antike Bauwerke, byzantinische, frühchristliche Überreiste sowie Renaissance- und Barockbauten faszinierten die Künstlerin durch ihre besonderen Strukturen, Öffnungen und Lichteffekte. Nach einigen Monaten schon sehnte sie sich jedoch nach moderner Architektur, die in der Innenstadt kaum zu sehen ist. So pilgerte sie mit der Fotokamera zu dem noch nicht fertig gestellten Finanzministerium an die Peripherie Roms und hielt die monotone Geometrie von Fassaden fest; die seriellen Fensteröffnungen und Bauelemente verwandelte sie zu strukturierten Farbimpressionen.
Den Abschluss des Kunstpreises krönt traditionsgemäß eine Ausstellung in der Villa, verbunden mit einem Vortrag des Künstlers, um die Früchte des Aufenthaltes der Öffentlichkeit zu präsentieren. Es ist auch eine Gelegenheit, die festverschlossenen Tore des Anwesens zu öffnen. Die Gäste kommen von anderen Institutionen, interessierte Galeristen schauen ebenfalls herein sowie italienische Kollegen aus der Umgebung. Aus den vielen Einzelkämpfern - Stipendiaten und in Rom lebende Künstler - werden für einen Abend Weggenossen, und in Gudrun Kemsas Atelierhaus gab es gute Gespräche zu heiteren Musikklängen bis tief in die Nacht hinein.
Lit.: Düsseldorfer Hefte, 1.Juli 1997