Rolf Sachsse
Drehen Schweben Bilden Sehen
Gudrun Kemsa und das Spiel der Bilder von der Bewegung im Raum
Eine Gebrauchsanleitung
Gudrun Kemsa ist Künstlerin. Ihre Werke sind Bilder und Videos. Die Bilder sind Photographien, und die Videos werden installiert,
sind also kein Sendematerial. Gudrun Kemsa hat einen Lehrstuhl für Bewegte Bilder und Photographie, und genau das ist es, was sie macht. Wobei bereits am Anfang aller Überlegungen zu konstatieren
ist, dass ihre stehenden Bilder stärker bewegt wirken als viele ihrer Videos, und dass umgekehrt ihre Video-Arbeiten statischer erscheinen als viele ihrer Photographien. Immer geht es ihr um den
Raum und die Zeit, als Bildhauerin arbeitet sie mit vier statt mit drei Dimensionen, und sie selber steht nie still. Einleitend ist damit fast Alles gesagt, und nun könnten die Bilder für sich
selber sprechen, mit Johann Georg Sulzer einfach schön sein und als Schönes mit Immanuel Kant bei uns ein interesseloses Wohlgefallen auslösen.
Doch da gibt es ein Problem: Nur Schauen reicht nicht, da bleiben die Augen - und bei Gudrun Kemsa werden immer beide Augen gebraucht zum Sehen, darauf ist noch zurückzukommen - im Suchen nach der Erkenntnis des Objekts stecken. Nur vor einem Monitor Platz zu nehmen reicht ebenfalls nicht, da fehlt die eigene Bewegung des Körpers zum Bild. Und so werden wir, die Betrachter ihrer Arbeiten, von Gudrun Kemsa ununterbrochen, aber eben aufs Schönste mit einem Dilemma behelligt: Was zeigt sie wirklich, was zeigen ihre Bilder, welche Rolle spielen wir in einem Spiel, dessen Regeln wir, die wir die Bilder nicht vorbereitet haben, uns erarbeiten müssen, um den Genuss des Schönen in ihnen tatsächlich nicht nur zu erkennen, sondern auch zu erfahren. Der folgende Text will dazu eine Gebrauchsanleitung sein.
Kunst als Spiel - das klingt wie eine Zumutung für die Kunst wie für die Menschen. Kaum ein größerer Angriff ist auf die Autonomie des künstlerischen Handelns denkbar, das sich allein aus der Bindung des Wirkens an die Person speist, seit achthundert Jahren beglaubigt durch Name und Signatur. Den gleichen Angriff hat vor einem drittel Jahrhundert die exakte (Natur-)Wissenschaft erlebt, als John Conway mit dem Game of Life die Spieltheorie in Biologie, Informatik und Soziologie einführte und zunächst mit dem erbitterten Widerstand seiner Kollegen rechnen musste. Für die Kunst ist das Spiel eigentlich kein Problemfeld, haben doch Künstler wie Marcel Duchamp Spiele entworfen und letztlich ihre ganze Arbeit zum Spielfeld eigener Ideen erklärt. Gerade Künstlerinnen lag die Verbindung von Leben und Arbeit immer so nahe, dass die Integration spielerischer Elemente in ihr Werk meist mühelos gelang - doch hier ist die Umkehrung dieser Idee vom Spiel gemeint. Spiele funktionieren nach Regeln, die zuvor abgesprochen werden. Diese Regeln bilden feste Konventionen, deren Verletzung entweder den Spielabbruch oder ein neues Spiel zur Folge haben. Die Konventionen beziehen sich immer auf die Kommunikation der Spielenden untereinander - und hier kommt die Kunst ins Spiel: Das Sozialsystem Kunst, der Umgang von Künstlern, Vermittlern und Sammlern wie Betrachtern miteinander über den Katalysator Werk hinweg, ist nicht nur dynamisch, sondern auch grundsätzlich von einer Übereinkunft der Anerkennung untereinander abhängig. Wichtigstes Element einer solchen Konzeption von Spiel als Regelwerk für eine Gesellschaft oder eines ihrer Subsysteme - hier also die Kunst, mit Nachdruck auf der bildenden Kunst - ist seine Vorläufigkeit, die Absprache über einen formal gesetzten Endpunkt. Es formt damit die Utopie einer bild-, ton- oder ereignisgesteuerten Kommunikation unter lebenden Menschen ohne Gewalt, mit Interesse (lateinisch für dazwischen sein) und im Begriff eines größeren Ganzen.
Bis ins 19. Jahrhundert hinein war dieses größere Ganze die Religion, vorzugsweise die christliche. Ihre normative Kraft evozierte Bilder, die Grundlage des Glaubens sein sollten; und wann immer eine Aufklärung sich gegen diesen Bildgebrauch stellte, begann sie mit der Zerstörung zuvor gemachter, gesammelter und interpretierter Bilder. Religiöse Kriege waren und sind immer auch Bilderkriege, mehr als alles Andere. Künstler haben sich jedoch gegen die Instrumentalisierung ihrer Arbeit immer vehement gewehrt, mit durchaus fraglichem Erfolg, wie schon Gotthold Ephraim Lessing zu thematisieren wusste. Zu allen Zeiten mussten Künstlerinnen immer noch einen Schritt weiter gehen, weil ihnen nicht nur der Missbrauch ihrer Bildmacht entgegenstand, sondern auch die Anerkennung ihrer Bildfindungen versagt wurde. Umgekehrt waren Künstlerinnen immer auch schneller vergessen, müssen heute tiefer aus historischer Versenkung hervorgehoben werden.
Jürgen Habermas hat als Fundament der Moderne - der sich die Künstlerin Gudrun Kemsa unbedingt verpflichtet fühlt - den Vorgang der Säkularisation, die Trennung der Mächte von Staat und Kirche durch Enteignung der letzteren ausgemacht. Mit demselben Philosophen konstituiert sich seither Gesellschaft nicht mehr aus einer Gemeinsamkeit des Glaubens oder einer aus diesem Glauben entwickelten Ethik, sondern aus einem profanen Rechtssystem und einer Menge strategischer Absprachen über die Kommunikation der Menschen untereinander. Dass diese Veränderung den Stellenwert von Kunst in der Gesellschaft verändert habe und hat, ist deutlich sichtbar, doch hilft es wenig bei der Beschreibung einer Arbeit in der Kunst seither. Einmal mehr war es Marcel Duchamp, der die Mechanismen einer Etablierung von Kunst in modernen Gesellschaften durch ein ganzes Set von geäußerten Anweisungen und durchgeführten Handlungen bereichert hat; und nachdem er sich für zwei Jahrzehnte aus der Kunst aufs Schachspiel zurückzog, kann er auch diesem Versuch einer Annäherung an Gudrun Kemsa und ihre Werke Pate sein.
Das Spielfeld Gudrun Kemsa ist Meisterschülerin des kanadischen, in Deutschland lehrenden Bildhauers David Rabinowitch, was nicht unbedingt heißt, dass sie selbst Skulpturen schafft, genauso wenig wie er selbst ausschließlich in diesem Medium arbeitet - und doch ist da ein grundlegendes Prinzip, das mindestens im Anfang ihre mit seiner Arbeit verbindet. Eine der bekanntesten Werkgruppen von Rabinowitch besteht aus Eisenplatten, die mit Schnitten geteilt und teilweise leicht verkantet wieder zusammen gesetzt werden. Was bei seiner Arbeit entsteht, sind Definitionen von Orten oder Plätzen, deren Binnenstruktur sich unmerklich je nach Sonnenstand und Wetterlage verändert, indem die Schnittkanten leichte Schatten werfen oder als unterschiedlich breite Schlitze erscheinen. Neuere Steinskulpturen greifen nur vorsichtig in bestehende Strukturen aufrechter Stelen oder Flächen ein, ritzen das Vorhandene und schaffen so subtile Zeichnungen plastischer Zusammenhänge. Wesentliches Element dieser Arbeiten, die zudem fast durchwegs Bodenskulpturen sind, ist die Umkehrung von Positiv und Negativ, vom Hochrelief über die Schattenkante zur Muldenform.
Gudrun Kemsa hatte die Photographie als künstlerisches Medium schon entdeckt, bevor sie zu David Rabinowitch in die Klasse ging, aber seine Art zu sehen ist mindestens im Frühwerk der Künstlerin deutlich präsent. Als Dispositiv bildet diese Sicht das Spielfeld, auf dem die Bewegungen der Figuren nach noch zu findenden Regeln stattfinden werden, die Grundlage aller künftigen Züge der Spielerinnen und Spieler. Die bogenförmige oder fenstergleiche Umrandung der photographierten Situationen sind ein Element dieses Feldes, die äußeren Formate der entstandenen Bilder ein anderes. In kleinen Serien von je einem halben Dutzend Varianten werden unterschiedliche Positionen und Winkel, Lichtsituationen und Ausführungen erprobt. Größen variieren zwischen Abbildungsmaßstab und Ausführungsfläche, Lineaturen wechseln mit Grau- oder monochromen Farbverläufen ab. Alle diese Variationen sind Fingerübungen aus der Skulptur, aus künstlerischer Praxis am Anfang einer autonomen Setzung von Name und Werk - ein Œuvre in statu nascendi.
Dabei erfindet Gudrun Kemsa zunächst die Photographie in genau der gleichen Weise, wie dies 150 Jahre zuvor William Henry Fox Talbot getan hat: Positiv und Negativ sind gleichwertige Produkte des Lichts, haben die gleichen Höhungen und Tiefen wie alle anderen Zeichnungen auch. Photogenic Drawings hatte Talbot seine Arbeiten nach langer Überlegung genannt, bei der auch die Melanotypie [Schattendruck] und die später sich durchsetzende Photographie [Lichtzeichnung] eine entscheidende Rolle spielten. Doch die entwerfende Dimension des disegno interno der lichtgezeugten Zeichnung [photogenic drawing] ist im Werk von Gudrun Kemsa von Anfang an pur gegeben. Es geht nicht um die möglichst perfekte Darstellung aller Elemente eines Raums, es geht nicht um die Vermittlung einer Freude oder eines Schreckens beim Betrachten und Erkennen, es geht allein um die Sensation des Lichts: Flecken auf der Wand, Löcher in der Perspektive, ausgebrannte Stellen in der Fläche des Papiers. Noch muss sich alles organisieren, vor allem um die Reinheit des Lichtes herum, da wo die Welt in ihrer Unorganisiertheit noch zu sehen ist.
Was dem Bildhauer die Plinthe ist, muss dem Photographen die Basis sein: zuverlässiger Grund. Bodenskulpturen bieten diese Sicherheit nicht, sie sind einfach da und beanspruchen ihren Platz im Sosein. Selbst wenn keine Horizonte sichtbar werden, ist der Grund für Gudrun Kemsa unverzichtbar; auf ihm kann sie stehen, gehen, sich drehen. Mit Louis Jacques Mandé Daguerre hat diese Erfinderin der Photographie den panoramatischen Blick gemein: Sie ist im Bild, und wir mit ihr. Die feste Basis ist beiden Arbeitsformen gemeinsam, erscheint im Video gelegentlich gar stärker als in den photographischen. Gudrun Kemsa ist begeisterte Skaterin, von daher weiß sie die Bedeutung eines glatten festen Grundes zu schätzen und einzuschätzen. In den photographischen Arbeiten wird der Asphalt von Straßen, der Schotter von Fußwegen und die Pflasterung alter Orte zu einem verwischten, doch gleichmäßigen Boden, auf dem jedes Spiel aus Drehen und Schwenken stattfinden kann. Umgekehrt sind die Flächen, auf denen sich die Menschen und Maschinen in den Video-Arbeiten bewegen, regelmäßig gemusterte, oft konstruktivistisch aufgerasterte und gelegentlich durch Treppen oder Stufen in der Höhe gestaffelte Promenaden und Plätze. Wo im Frühwerk auf den Grund verzichtet wurde, führte ein Bogen in der Höhe alle Kraft auf den Boden zurück oder schloß ein Kreis die Wahrnehmung sicher ein; je weiter die Arbeit an den Regeln ihres künstlerischen Spiels voranschritt, desto sicherer wurde der Grund. Der Boden ist bereitet, die Figuren können Aufstellung nehmen, bevor das Spiel beginnt.
Die Figuren
Der Mensch hat seine Häuser und Tempel immer nach seinem Abbild gebaut, selbst wenn er die Maßstäbe veränderte.
Menschen sind Figuren im Kunstspiel der Gudrun Kemsa wie Architekturen, von diesen sind es jedoch meist die Teile, deren Form und Funktion mit der menschlichen Bewegung in und um das Gebaute fest
konnotiert ist: Fenster, Säulen, Bögen, Kuppeln, Spindeln und oft genug Fassaden. Die Fenster als Bilder der Gleichzeitigkeit von drinnen und draußen im Akt des Photographierens waren zuerst da,
doch als Motiv und symbolische Form schnell wieder überwunden. Irgendwann kamen sie wieder, nun als Teil ganzer Fassaden. Das Bild der Fenster war ebenso früh da, in Form von Lichtflecken und
Durchblicken - auch hier mit einem temporären Auftritt im Spiel. Zu symbolbeladen, zu schwer, zu kräftig als Anmassung innerhalb eines ganzen Bildes, um das es am Ende ja geht. In Video-Arbeiten
haben Fenster als Verdopplung des theatralischen Raums eine ganz eigene Funktion, mit der Gudrun Kemsa von Anfang an sehr zurückhaltend umgegangen ist, aus gutem Grunde.
Säulen und Menschen sind im Œuvre der Künstlerin nahezu gleichzusetzen, kein Wunder angesichts des Programms von Bewegungen im Raum. Wer dahinter einen Klassizismus vermutet - und das ist bei allen radikal modernen Künstlerinnen und Künstlern vor der Hand keine falsche Vermutung -, sollte sich nicht getäuscht sehen: Gudrun Kemsa macht aus einfachen Laternenpfählen wie aus dunklen Wandstreifen in einer Durchgangspassage bereits Säulen. Ihr sind aber die antiken Säulen in Rom ebenso wenig fremd wie die Baumreihen längs der Via Appia, die sie wie epikuräische Peripathetiker zum Ausgang der Weltbefragung nimmt. Je voller ihre Bilder mit Figuren sind, desto weniger ist die Qualität als Interieur oder Exterieur zu befragen - der Raum ist da: Bewegen wir uns in ihm! Das heißt erst ein Mal, zwischen die Figuren zu schauen, sich dem Tiefensog der Raumstücke zwischen den Figuren hinzugeben, gelegentlich im Ungefähren zu verbleiben, immer aber sich als wahrnehmend in Analogie zur Figur im Spiel zu begreifen. Die Bewegung der Bilder überträgt sich auf die Figuren des Spiels und damit auf die Personen davor - das Drama dauert an, als Spiel der Welt, gelegentlich auch als anschwellender Bocksgesang, also nach Botho Strauss in der Form einer Tragödie.
Figuren werfen Schatten, im antiken Drama wie im Traum wie in surrealistischen Bildern. Gudrun Kemsa kennt diese Entwicklung, misst ihr aber nicht allzu viel Bedeutung zu, denn ihr kommt es darauf an, dass die Spieler in ihrem Spiel das eigene Ansinnen erkennen - das, worauf sich ihre Sinne konzentrieren können und wollen. Die Schatten der Figuren sind jedoch ein Teil der Ausgangsposition im Spiel: Sie bestimmen die Zeit, in der Anfang und Ende mindestens einer Aufzeichnung oder einer periodischen Wiederholung festgesetzt werden können. Die Schatten führen in Gudrun Kemsas Arbeiten aber auch eine Regel vor, die zwischen Video und Photo unterscheidet: Wo die Schatten wandern, bleiben die Figuren stehen. Wo die Figuren wandern, bleiben nicht die Schatten, sondern die Betrachter stehen. Wo ein Partner im Spiel steht, dürfen die anderen wandern - das Licht, die Imagination, der Sinn.
In manchen neuen Arbeiten - etwa denen aus der Reichstagskuppel zu Berlin oder den Sequenzen und Videotapes vom Rummelplatz - ist die Definition der Figur weit schwieriger. Hier übernimmt eine Großform das Regelwerk und dominiert alle Bewegungen und Details; wer sich dagegen behaupten will, muss stark sein. Doch die Hauptfigur wird fast immer aufgefangen, weniger von einzelnen, eben anderen Elementen, sondern von gegenläufigen Figurierungen, die aus ihrer Eigenrotation entstanden sind. Vor der Kuppelmitte im Reichstag verselbständigt sich ein Geländer, auf dem Rummelplatz bewegen sich Wagen aus der Spur, dafür bleiben die mittlere Kugel und die Zuschauer am Rande ortsfest. Die Entwicklung, aus der dieses Buch einen Zwischenbericht gibt, zeigt, dass Gudrun Kemsa ihr Spiel irgendwann einmal auch ohne Figuren wird spielen können. Dafür sind allerdings mehr die Regeln denn die Figuren verantwortlich.
Die Regeln
Kein Spiel ohne Regeln, keine Regel ohne Ausnahme, kein gelungener Ablauf des Spiels ohne Sonderbehandlung des einen oder anderen Falls. Soweit stimmt auch die Definition des Schaffens von Gudrun
Kemsa mit einer jeden Spieltheorie überein. Doch über die Regeln und die Ausnahmen bewegen wir, die Spieler, und sie, die Künstlerin uns von der Bahn des Erwartbaren weg. Gemach, alles zu seiner
Zeit: Wer keine Regeln kennt, kann nicht mitspielen, kann nicht verstanden werden, kann nur ein unbeteiligtes, unwissendes, erkenntnisloses Urteil abgeben - da sei noch einmal Immanuel Kant vor.
Das Spiel des Lebens hingegen kennt unendliche Erweiterungen, überschreitet die selbstgestellten Regeln jedoch ebenfalls nie. Nochmals zur Erinnerung: Die Kunst ist dazwischen, sie interessiert
uns.
Gudrun Kemsas Regeln sind einfach und haben dem Buch einen Titel, mir einige Anregungen für diesen Essay gegeben: Bewegt Euch! Bewegen wir uns! Gudrun Kemsa hat sich bewegt, bei der Aufnahme von Photographien, oder sie hat Protagonisten ihrer Szenen in den Video-Arbeiten sich bewegen lassen, nun sollen sich alle anderen auch bewegen, mit den Augen, mit dem Körper, mit den Sinnen. Das Drehen oder Wirbeln mag dem Derwisch abgeschaut sein, und wer die Tänze der Trance im Orient kennt, dem mag die Vorstellung einer solchen Bewegung bereits den Atem rauben. Das Schweben ist dem Gleiten gleich, eine schnelle Vorwärtsbewegung ohne große Amplitude mit möglichst wenig Kraftaufwand, dem Skaten, Snowboarden, Skifahren ähnlich. Diese Bewegungen sind durch einen Anfang und ein Ende gekennzeichnet, unspektakulär, ohne Klimax, etwa wie in den Regeln der Minimal Music fixiert. Keinesfalls bleibt der Fluss des Drehens und Schwebens ununterbrochen, Atemholen und Innehalten sind die Grundlage des photographischen Akts nicht nur bei Gudrun Kemsa.
Drehen und Schweben sind die Regeln für die photographischen Arbeiten - generell und mit den Ausnahmen, die die Regel selbst bestätigen. Die Photographin dreht sich beim Aufnehmen - welch Metaphorik für einen bildschöpfenden Vorgang - und sie schwebt durch Raum und Zeit im fertigen, zugerichteten, erarbeiteten Bild, das keineswegs mit dem schnellen Schöpfungsakt in der Fingerspitze geschaffen oder fertig gestellt ist. Zum Drehen wie zum Schweben gehört die Übung, hier stehen die Künste vor der Kunst oder die Fertigkeiten vor den Fähigkeiten. Gudrun Kemsa hat sich ein Repertoire von Drehungen zugelegt, die Kamera in der Hand, der Verschluss offen oder auf eine längere Belichtungszeit vordefiniert. Bei der Benutzung von Panoramakameras mit schwenkbarem Objektiv ergibt sich zudem aus den diversen Mit- und Gegenbewegungen ein visueller Doppler-Effekt; bei welchen Bildern sie diesen nutzt, lässt sich aus der bloßen Anschauung kaum erschließen. Das Schweben bezeichnet zwei lineare Bewegungsrichtungen: an der (unteren) Bildkante entlang und ins Bild hinein.
Die Auswahl der Bewegungen ist als Regel nicht von der Willkür der Künstlerin, sondern von deren Verhältnis zum aufzunehmenden und aufgenommenen Raum abhängig. Wirft eine Figur einen Schatten, so wird gedreht, denn die Bewegung geht mit der Sonne wie im Tagesablauf seit der antiken Bildhauerei. Im runden Raum wird auch gedreht, im verwinkelten und unübersichtlich auskrakenden - Beispiel sei einmal mehr die Einkaufsetage - Innenraum gibt es ebenfalls keine andere Möglichkeit. Mithin ist das Drehen die erste Regel und das Schweben die zweite: Es wird auf geraden Wegen angewandt, auf trägen Flüssen wie dem Nil, wo ein Schiff die Bewegungsarbeit der müden Künstlerin ganz postmodern mit Boris Groys abnimmt, der schon vor längerem konstatierte, dass der neue Held müde sei. Das Schweben ist auch eindeutig die langsamere Bewegung, im Gegensatz zur Alltagserfahrung, bei der das Drehen zwar beschleunigt stattfinden kann, aber nie die Geschwindigkeit einer schwebenden Bewegung annimmt.
Wo Drehen und Schweben als Resultat das Bild auf Papier, also ein stehendes Produkt, evozieren, da muss die Arbeit in bewegten Bilder, im Video-Format, sich umgekehrt in Stillstand üben und die Bewegung denen überlassen, die sich am Ende auf dem Bildschirm oder in der Projektion tummeln. Die Nilpromenade ist ein gutes Beispiel: Was die Kamera erzählt, ist in Echtzeit vor der Künstlerin aufgetaucht und in derselben Lese-Anschau-Zeit auch wieder verschwunden. Die Reihung von Häusern, Straßen, Lebensgeschichten ist so zufällig wie die Vorbeifahrt, und doch folgt sie einer festen, unverrückbaren, als ewig annehmbaren Ordnung. Das Moving Panorama, das Gudrun Kemsa bei dieser Arbeit Pate gestanden haben mag, war eine Attraktion aus der Frühzeit der Photographie, lange vor dem Film - es gaukelte den Insassen einer Kutsche die schier endlose Reise an den großen Landschaften der Welt vor und blieb doch nichts als ein einfaches, vielfach wiederholtes und wiederholbares Band.
Die Video-Werke von Gudrun Kemsa nehmen als Regelwerk für das große Spiel der Kunst die Landschafterei also wesentlich radikaler auf als nicht nur ihre eigene Photo-Arbeit, sondern in noch größerem Maße als die Malerei des frühen 19. Jahrhunderts: Hier ist der Horizont tatsächlich entgrenzt, hier kann es rechts und links unendlich weitergehen, hier wird der Mensch mit Peter Sloterdijk einmal mehr zum Savannenläufer mit der Ausrichtung des Blicks an den kleinen Differenzen in der Höhe, die über das Überleben entscheiden, dort der Steinzeit-Spezies, hier der Kunst als Grundlage der Erkenntnis. Wo die Video-Werke jedoch Zeit verdoppeln, gehen sie über die Unendlichkeits-Definition im Horizont hinaus, enkulturieren sich gleichermaßen in Motiv wie Montage. Hier dreht sich die Kamera erst recht nicht mehr, weil sich Alles vor ihr dreht. Hier ist jedes Schweben unnötig, im Gegenteil wird von der Kamera, die die bewegten Bilder aufzeichnet, ein fester Stand erwartet.
Eine interessante Position dazwischen - hier die lange Landschaft vor und hinter, über und unter dem Horizont, dort die nächtliche Szenerie aus rotierender Maschinerie in visuellen Dopplerschleifen - nehmen einige Video-Arbeiten ein, auf denen Menschen über Plätze gehen oder an Promenaden sich kreuzen. Die Menschen begegnen sich - und doch nicht, denn sie nehmen voneinander keine oder nur kaum Notiz. Dieses gedankenlose Aneinandervorbeigehen wird von Gudrun Kemsa in Komposition des Bildes und vor allem in Schnitt wie Nachbearbeitung zu einem so komplexen Netz gegenseitiger Kreuzungsbeziehungen, dass es mindestens den wissenschaftlichen Versuchen zur Bewegung großer Ameisenvölker und der Simulation dieser Bewegung durch größere Rechen- und Rechnermodelle ähnelt. Und in den neuesten Video-Werken, deren Entstehen diesen Text begleitet, bahnt sich ein weiterer Weg aus einer Kombination von Kamera-, Schnitt- und abgebildeter Bewegung an. Die bewegten Bilder schaffen sich ihr Regelwerk selbst, sind autopoëtische Konstrukte von kleinstem Anstoß und größter Wirkung.
Die Ausnahmen
Keine Regel ohne Ausnahmen, und das ist gut so, weil menschlich. Und auch wenn Gudrun Kemsa durchaus streng mit sich
und ihren Regeln umgeht, so gönnt sie sich doch einige Ausnahmen - und diese bereits im Konzept des Ganzen, im Vorfeld der Produktion. Dabei wäre es nur verwunderlich, wenn diese Ausnahmen nicht
gleich wieder auf die mediale Spezifik ihres Schaffens verweisen würden: In der Kunst ist noch immer ein jedes Werk das Besondere, Ausgenommene; es gehört mit Hans Belting eben nicht zum Alltag,
selbst wenn es ohne autonomen Anspruch, also noch vor jedem Begriff von Kunst gemacht worden ist. Auch hier ist die Sprache hilfreich bei der Definition des Werks: Eine jede Aufnahme ist die
Ausnahme - und doch machen Regeln Sinn für die Beschreibung des Ganzen.
Wenn sich Gudrun Kemsa in einen Raum, an einen Ort begibt, um ihre Arbeit zu tun, um eine Situation als Basis für eine photographische oder videographische Arbeit zu begreifen, definiert sie bereits das mögliche Set von Figuren und die wahrscheinliche Anwendung der Regeln. Ihre Erkenntnis formt die Grundlage der bildnerischen Festlegung - und zunächst bewegt sie sich an diesem Ort. Aus der Erfahrung einer eigenen Bewegung, sei es die Drehung oder das Schweben, schöpft sie die Idee einer Umsetzung in Bilder und Sequenzen. Zwei Elemente sind es vor allen anderen, die sie im Moment einer Arbeitsaufnahme bewegen; beide Elemente sind stärker der skulpturalen Arbeit entlehnt als der malerischen, wie der photographische Akt und sein Derivat in der filmischen Sequenz überhaupt dem Plastischen näher stehen als der Malerei. Ein weiße Fläche als Basis gibt es in der Photographie genauso wenig wie auf dem Bildschirm des Video-Monitors, aber der rohe, ungehauene Block im Steinbruch hat eine Entsprechung im Raum des Photographierens und Filmens.
Damit ist eines der beiden Elemente für Gudrun Kemsas Arbeitsbeginn definiert: der Raum. Als voluminöse Großform bestimmt er die Situation der einzelnen Figuren, die im Spiel des Bildes oder der Bildreihe bedeutend werden. Nach der Erkenntnis, wo die einzelnen Spielfiguren platziert sind, folgt die Anweisung des Umgangs mit ihnen: Die Künstlerin bewegt sich und erzeugt Bilder, oder sie lässt ihre Protagonisten sich bewegen, was die Bilder quasi von selbst erzeugt, solange der Verschluss offen bleibt. Immer wird der Bildraum als Block begriffen, aus dem die eigentliche Arbeit entnommen wird, im Sinne Michelangelos als Wegschlagen allen Überflüssigens. Der Raum bestimmt die Position der Spielfiguren von Ausgang bis Ende der aufgezeichneten Situation, er bestimmt auch die Bewegung zwischen ihnen, die Künsterlin und Betrachterinnen wie Betrachter gleichermaßen vollziehen müssen.
Dabei fällt auf, dass Gudrun Kemsa ihre Räume immer so auswählt, dass sie geschlossen sind, geradezu geschützt wirken. Sie erfüllt a priori eine Forderung Aldo van Eycks, der von den Architekten immer forderte, ein Innen zu bauen, auch außen, während er ihnen vorwarf, das Umgekehrte zu tun, nämlich auch innen nur ein Außen zu entwerfen. Gudrun Kemsa erkennt ausschließlich Räume, die als Innen einer möglichen Projektion von Welt und Weltsicht taugen, und sie erkennt nur solche Räume als Grundlage ihrer Arbeit an, ohne sie selbst konstruieren zu wollen. Das unterscheidet ihre Arbeit grundsätzlich von vielen Bemühungen ihrer Zeitgenossen, die nur noch selbstgebaute Räume wahrnehmen können und sie daher in der einen oder anderen Form basteln müssen. Gudrun Kemsa kommt ohne Weltmodelle aus, ihr Blick ist unmittelbar, ihre Reaktion ebenfalls, und unmittelbar trifft uns Betrachter die Wucht ihrer Bildfindung.
Bei der Auswahl eines geeigneten Raums für Figuren und Spiel lässt sich Gudrun Kemsa von einer sprachlich nur schwer fassbaren Kategorie leiten: von der Farbe. Nicht dass ihr das Vorhandensein von Farbsystemen unbekannt ist, nicht dass ihre Vorlieben für manche Farbgruppen unreflektiert sind, sondern die ebenso schnelle wie selbstsichere Auswahl eines Farbklangs als Grundlage einer Situation ist ein Kennzeichen der autonom agierenden Künstlerin. Mit Farben kennt sie sich bestens aus, sie kann sie auch exakt beschreiben und bestimmen - darum geht es ihr aber nicht. Sie nimmt eine Farbe als Stimmungsfeld auf und sucht danach ihren Ort, den der Farbe und den der Künstlerin. Die Neonlichter auf dem Rummelplatz in allen Variationen des Gases und der Filter, die Sonnenstrahlen mediterraner Orte mit Garten und Portikus samt deren bräunlicher Schattenzonen, die roten Tönungen einer Passage im Untergrund, die Behelfsarchitekturen unter einer Brücke in angeschmutzten Primärfarben: Jede Farbwahrnehmung evoziert den Ort eines Geschehens im Bild, am Bild, vor dem Bild und auch dahinter.
Farbe ist für Gudrun Kemsa kein klassisches Thema, auch nicht in moderner Variante als Bild des Bildes. Ihr deuten Farben technische Bedingtheiten an, weisen auf eine zu beleuchtende und abzulichtende Wirklichkeit hin, die ihr als Ausgangspunkt eines Spiels zur Bildfindung dient - und im Ergebnis sind sich gedruckte Photopapiere und flimmernde Monitore als Evokation des Wahrnehmens so ähnlich, dass zwischen ihnen nicht mehr differenziert werden muss. Farbig ist die Welt, schwarzweiß war ein Mal die Abstraktion, durch die auch Gudrun Kemsa hindurch musste, mit sehr guten und im ursprünglichen Sinn schönen Arbeiten. Doch Farbe ist inzwischen ihr Auslöser geworden, der Anlass für den Aufbau des Spielplans, der Figuren und schließlich für die Anwendung der Regeln. Der Plan ist kalt, die Figuren sind leblos, ihr Raum und ihre Farben sind Anfang und Ende des Spielens - und damit des darin zu sehenden Lebens - zugleich. Doch kaum ist ein Spiel begonnen oder in der ersten Runde abgeschlossen, wird es erweitert, nicht um Varianten oder Setzungen, sondern um Bedeutungen und wahrnehmbare Wirklichkeiten.
Spielerische Erweiterungen
Jedes Spiel wird langweilig, wenn die Regeln allzu streng ausgelegt sind oder ohne Flexibilität von Spielsituation zu Spielsituation angewandt werden. Um bei John Conways Game of Life zu bleiben:
Auch die Genetik hat recht bald erkannt, dass es nur mit Erweiterungen, Verbesserungen und Querverbindungen möglich ist, die Modellrechnungen für Zellwachstum und andere Organisationsformen des
Lebens in höhere Komplexitäten, also größere Naturnähe zu bringen. Erweiterungen von Spielen sind in erster Linie dazu da, Bedeutungen von Regeln und Figuren zu bestimmen oder zu verändern,
wodurch - und das ist nur vor der Hand ein Widerspruch - die grundsätzliche Konstitution eines Spiels umso deutlicher wird. So ist es in der Arbeit von Gudrun Kemsa auch: Indem die Figuren und
Regeln erweitert und neu bedacht werden, lassen sich aus den Weiterungen und Reflexionen Rückschlüsse auf die Gänze des Projekts ziehen, selbstverständlich nur bis zum heutigen Tag.
Zum Beispiel bei den Farben: Wo die Grundlagen vom Ort bestimmt sind, kann die Bearbeitung oder der Ausschnitt eines Bildes einer nicht unbedingt ortsgebundenen Farbe eine neue Bedeutung geben, aus der auf den Einsatz von Farbe insgesamt geschlossen wird. Das intensive Gelb der Flächengründe mancher Videos von Plätzen steht zwar nicht im Gegensatz zur Alltagswahrnehmung eines Trottoirs, über das Menschen gehen, doch ist es in seiner Intensität so stark, dass es den Ort entgrenzt und damit unwirksam, wenn nicht wenigstens schon unwirklich macht. Plötzlich gehen die Menschen hier nicht mehr, sondern schweben und drehen sich, vollziehen also exakt jene regelhaften Bewegungen, die sich Gudrun Kemsa in den photographischen Arbeiten selbst auferlegt. Das Gelb verliert in der Video-Projektion auf den Bildschirm oder die Leinwand seine gesamte Binnenstruktur und intensiviert als glatte Fläche die Aufmerksamkeit, zieht den Blick bis hinter den Spiegel des Bildschirms. Ähnliches gilt für manches Blau als Hintergrund der Videosequenzen an der Promenade: Noch ist es nicht die Blue Box, vor der das Geschehen abläuft, doch die Vorstellung eines jeden anderen Hintergrundes ist leicht möglich.
Bedeutende Erweiterungen sind die Bildtitel, in dem sie Hinweise geben, die ebenso richtig wie unvollständig sind: Kolonnaden, von denen man ahnen kann, dass sie zum Brandenburger Tor, zu Schinkels klassizistischem Museum in Berlin gehören können, aber auch ohne weiteres zu einem römischen Heiligtum der späthellenistischen Antike. Der Gardino zeigt sich als italienisch heiteres Pasticcio früh- wie spätbarocker Hecken und Skulpturen an sandigen Fußwegen - einem Ort ist er nicht zuzuordnen, eher einem Quiz, wo dies denn noch sein könnte. Doch dieses ist kein Teil des Spiels, denn für die Erweiterung der Kemsa'schen Szenerie ist die Rückführung des Erkennens auf die jeweils eigene Erinnerung wichtig, wohin die einen auch immer führen mag. Die Passage unter dem Potsdamer Platz trägt dagegen einen berühmten Namen wie auch die Bibliothéque Nationale in Paris, doch in beiden Fällen ist die dazu gehörige Architektur so austauschbar wie jeder Supermarkt-Eingang oder jede Bürohaus-Fassade. Hier nimmt der Titel dem Objekt die Einmaligkeit und führt es auf eine andere Erinnerung im Betrachten zurück, auf die Stimmung eines Hindurchs, Vorbeis, Drehens und Schwebens.
An dieser Stelle beginnen sich einmal mehr - spielerisch, wenn man es so möchte - die Photographie und das Video voneinander zu unterscheiden, aber dies auch nur, weil das Publikum unterschiedliche Erwartungshaltungen an die Ergebnisse des Mediums hat. Photographien bilden Indices dessen, was sie abbilden, und sie tun dies unabhängig von der Qualität ihrer Abbildleistung. Selbst wenn Gudrun Kemsa es mögen wollte, es gelänge ihr nicht, bei uns das Interesse am photographierten Gegenstand zu unterbinden. Das Dilemma von photographischer Kunst ist es, dass der Index des Mimetischen mit der Autonomie des Bildes kämpft - das hat schon Alfred Stieglitz immer und immer wieder vergeblich zu überwinden gesucht, als er eine Fine Art Photography begründen wollte. Gudrun Kemsa kann völlig gelassen mit dieser doppelten Indizierung umgehen und sie schlicht zu einer spielerischen Erweiterung ihres Regelwerks nutzen: Entweder verweist ein bedeutungsvoller Ortsname auf einen bedeutungsleeren Raum, oder eine namentliche Leerformel legt Wichtiges nahe, ohne es zu bezeichnen. Der Kunstgriff - im doppelten Wortsinn ist dies seit Marcel Duchamp wirklich einer - dient einem weiteren Zweck: Er begründet eine eigene Ikonographie, Teil des Spiels von Gudrun Kemsa um die Kunst.
Plätze als Grund, Säulen als Figuren, Bewegen als Regel - das ist ein kosntruktivistisches Programm und in dieser Form hoch ideologisiert. Nichts liegt einer Künstlerin wie Gudrun Kemsa ferner. Doch hat ihr Rekurs auf ein klassizistisches Ensemble gute Gründe für sich, platziert er sie doch in einen europäischen Kontext klarer Konventionen, in denen ihr Anliegen einer Wahrnehmungserweiterung eben ohne Weiteres verstanden werden kann und wird. Gerade weil die Objekte auf den Bildern und Video-Arbeiten vertraute Elemente einer breiten kulturellen Tradition Mitteleuropas sind, kann der Umgang mit ihnen umso freier sein: Vom Drehen und Schweben direkt zum Sehen und Bilden. Aus letzterem folgt die Bildung, aber das ist die Arbeit der Spieler.
Die Spieler
Künstler sind keine Spieler - entweder beschäftigen sie sich mit existentiellen Fragen samt ihrer Widerspiegelung in Bild, Ton und Wort oder sie sind keine Künstler. Die Implikation des
Spielerischen ist damit nicht ausgeschlossen, gerade auch bei Künstlerinnen, und das Muster des Game of Life als mathematischem Spielmodell hat absolut existentielle Konnotationen. Die
Beschreibung der bisherigen Arbeit von Gudrun Kemsa mit Kategorien eines solchen Spiels erfolgt auf der Basis einer geleisteten und in Objekten wie Projektionen anschaubaren Resultaten. Doch die
Anschauung selbst ist Teil des Spiels, zunächst allerdings ohne Beteiligung der Künstlerin. Sie arbeitet für sich, schafft ihre eigenen Werke und definiert deren Existenz in Objekten und
Ereignissen. Aber die Arbeit des Erkennens ist den anderen überlassen, hier also den Spielern - was insofern schwer zu beschreiben ist, als die mathematischen Spielmodelle keine Spieler vorsehen
und der umgangssprachliche Begriff des Spiels die Kunst weitgehend ausschließt.
In den neueren Arbeiten hat Gudrun Kemsa die Spieler ins Bild einbezogen, ganz in der Tradition spätmittelalterlicher Stifterfiguren oder romantischer Silhouetten im Vordergrund von Landschaftsstimmungen. Gerade in Video-Arbeiten fällt auf, wie ruhig diese Figuren stehen: Sie schauen für uns. Kontemplation scheint die Anweisung zu sein, doch das ist offensichtlich eine List, denn wer sich die Mühe macht, ein Video für die volle Laufzeit von mehreren Minuten Dauer anzusehen - seit der letzten documenta als größte Zumutung an Kunstliebhaber gebrandmarkt -, wird schnell feststellen, dass die Schattenrisse plötzlich da sind und wieder weg, ruhig stehen und ruckartig verschwinden. Von endzeitlicher Betrachtung oder sakraler Adoration ist da keine Spur, eher muss wieder ein interesseloses Wohlgefallen vermutet werden, eben nicht ein Dazwischen-sein, sondern eine ebenso randständiges wie zerstreutes Hinschauen. Genau das tut Gudrun Kemsa selbst nicht, und daher kann sie von uns erwarten, dass wir dies auch nicht tun - wir Spieler.
Eine Anweisung für das Hinschauen gibt es nicht von der Künstlerin; sie ist professionell genug, um sich solcher Äußerungen zu enthalten, die doch nur zu falschen, weil verkrampften Rezeptionsbemühungen führen. Doch aus der Arbeitsweise selbst ist ein Grundsatz zu entnehmen, kein Befehl und keine Anleitung, aber ein Imperativ aus der Kategorie selbst. Ob bewegt oder still, folgen Gudrun Kemsas Bilder einer bestimmten photographischen Konstitution nur mit außerordentlichem Widerwillen: der Schärfe. Verwischt erscheinen die Produkte aus Drehung und Schweben, bewegten Figuren in Video-Arbeiten mangelt es gelegentlich an Exaktheit. Das zwingt zunächst zum zweiten Hinsehen: Wo findet das Auge einen Halt? Wo ergeben sich durch Überblendungen neue Konstellationen? Wo sind die unvermutet klaren Formen inmitten der verwischten Flächen her? Mit solchen Fragen ist bereits mitten im Spiel und beginnt Figuren und Regeln zu erkennen.
Für die Ausnahmen und das Spielfeld ist - unabhängig von der Existenz einer Arbeit als Photographie oder Video, was bei dieser Betrachtung von Gudrun Kemsas Œuvre ohnehin nur eine vordergründige und wenig erhellende Kategorie ist - ein Sehtraining hilfreich, das der medialen Konstitution der Arbeiten zuwiderzulaufen scheint: das Sehen mit beiden Augen. Nicht die kopfschmerzträchtige Übung des stereoskopischen Sehens mit starren Augen ist hier gemeint, sondern die gleichmäßige Benutzung des ganzen, aus überlappenden Bildern bestehenden Wahrnehmungsfeldes ohne Bevorzugung der einäugigen Fokussierung, die der Blick durch den Sucher einer Kamera oder auf den Monitor eines Videogeräts evoziert. Dieser doppeläugige Blick lässt sich auch als Nutzung der Retina ohne Konzentration auf die Fovea beschreiben - selbst blinde Flecke sind in diesen Arbeiten kein Thema - und wird im frühen wie vorgeschichtlichen menschlichen Leben genau für die Leistungen benutzt, die Gudrun Kemsa bei ihrer Arbeit vollbringt: Drehen und Schweben, danach Sehen und Bilden.
Es ist, und damit bin ich einmal mehr am Ausgangspunkt meiner Überlegungen angelangt, keine andere Übung als die, die die Bildhauer seit dem späten 19. Jahrhundert, seit Medardo Rosso und Auguste Rodin, von ihren Kunstbetrachtern verlangen - nicht unbedingt um das Objekt herumgehen, aber keinesfalls nur von einem Standpunkt aus sehen, und vor allem: alle möglichen Blicke in einen synthetisieren. Gudrun Kemsa fasst in einer Photographie eine Unzahl von möglichen anderen zusammen und lässt in einem Video eine Vielzahl anderer Bewegungen vermuten; das ist, wie beschrieben, Teil ihres Spiels. Von den Spielern auf der anderen Seite des Bildes - hinter dem sie steht - erwartet sie zu Recht, dass sie sich mindestens für eine kleine Zeit, weder zu kurz noch zu lang, auf dieses Sehen und Synthetisieren einlassen. Wir sind also am Spiel, vor den Photographien und den Video-Arbeiten von Gudrun Kemsa.
Das zweite Spiel
Künstlerische Arbeit ist ein Produkt aus Kreation und Rezeption samt deren Rückkopplung auf die nächste Kreation. Gudrun Kemsa zeigt ihre Arbeiten - ein Begriff, der Prozess und Ergebnis
gleichermaßen einschließt, ohne eine dieser beiden Komponenten zu bevorzugen - seit mehr als einem Jahrzehnt erfolgreich in den White Cubes von Ausstellungen, Galerien, Museen und Festivals. Ihr
Œuvre wird in lokalen und internationalen Kontexten vorgeführt, und es wäre ein Wunder, wenn diese Präsentationen im Hinblick auf die nächsten Arbeiten nicht selbst wieder reflektiert würden. Der
Effekt ist unter Spielfeld, Figuren und Regeln beschrieben worden: ein Repertoire von großer Konsistenz und beeindruckender Insistenz. Dennoch markieren Zwischenberichte wie diese eine Zäsur,
demonstrieren den Übergang in neue, mindestens andere Phasen und wecken die Erwartung, auf Kommendes wenigstens einen kleinen Blick erhaschen zu können - möglichst noch vor der Künstlerin
selbst.
Schon jetzt mag auffallen, wie wenig Differenz wirklich zwischen den beiden Medien besteht, in denen Gudrun Kemsa arbeitet. Was für die Photographie zu sagen ist, kann auf Video durchaus angewendet werden; was im Video auffällt, findet sich bei ruhiger und näherer Betrachtung in Photographien wieder. Die Ausgabemedien könnten nicht unterschiedlicher sein: hier das kunsthistorisch wohl etablierte Papier mit pigmentierter Farbe, dort der Bildschirm mit dem Flimmern von 50 oder 60 Hertz. Doch dieser Gegensatz wird stärker von den Apparaten bestimmt als von den Werken selbst und verschwindet fast von selbst bei der Beschreibung wirklich wichtiger Komponenten des Werkbegriffs. Das Zusammenwachsen beider Arbeitsweisen ist ohnehin unübersehbar: Die photographischen Arbeiten werden zunehmend bewegter, die videographischen Werke wirken immer statischer.
Deutlich erkennbar sind die Elemente des Zusammengehens: Personen tauchen in den Photographien auf und bewegen sich - etwa im Beispiel der Reichstagskuppel - gegenläufig zur Kamera und ihrer Operateurin. Videos wie die Nilfahrt sind weitgehend menschenleer und machen den Fluß wie das fahrende Schiff zur eigentlich den Menschen vorbehaltenen Randfigur. Runde und ovale Flecken, einstmals Elemente des Lichts und seiner Negation, werden zunehmend durchsichtiger und erhalten Binnenstrukturen, die im Bild des Ganzen sich zu verselbständigen beginnen. Figuren, früher strenge Garanten des Raums dazwischen, lösen sich auf und produzieren amorphe Bereiche im Bild, die sich weder als Raum noch als Fläche definieren lassen. Es scheint, also ob sich Gudrun Kemsa endgültig von der Bildhauerei verabschiedet hat und tatsächlich in den Medien angekommen ist, nach der Bestimmung des Jean-François Lyotard im Immateriellen, das letztlich aller Kunst, und allein ihr, vorbehalten ist.
Noch eine Runde
Einige neue Elemente sind im Œuvre von Gudrun Kemsa erst in jüngster Zeit so deutlich nach vorn getreten, dass sie nach Beschreibung verlangen. In erster Linie ist es die Einführung des Spiegels,
der sich in Arbeiten vom Potsdamer Platz ebenso findet wie in den Fassaden der Bibliothéque Nationale. Spiegeln ist eine neue Regel, die im Drehen und Schweben dann impliziert wird, wenn das
Aufgenommene eine glänzende, widerscheinende Oberfläche hat. Wörtlich reflektiert das Spiegeln die früheren Arbeitsweisen und ihre Wirkung: Das Spielfeld ist ge- und durchbrochen, dafür aber
tiefer und spannender. Das hat Auswirkungen auf die Regeln, vor allem seit die Figuren sich aufzulösen begonnen haben: Die Bewegungen sind komplexer geworden, verweisen auf doppelte Loops und
kombinierte Abläufe, lassen sich nicht mehr einfach auf die Körperhaltung der Künstlerin bei der Aufnahme zurückführen. Ähnliches gilt für die Lichter am Rummelplatz auf den Diskokugeln und
Fahrgeschäften, sie lösen sich vom Körper ihrer Ausstrahlung und beginnen ein Eigenleben auf der Bildoberfläche.
Eine neue Runde im Spiel hat begonnen, und wir am Rande vor den Bildern staunen einmal mehr. Noch gelten die alten Regeln, so scheint es, und doch bahnen sich neue Sensationen an. Noch sind die alten Figuren erkennbar, doch ihre Konturen verschwinden und ihre Strenge verflüchtigt sich. Aus dem Spielfeld wird der Himmel, doch der hat schon auch seine strukturellen Konstruktionen. So einfach wie in den frühen Arbeiten scheint die Definition des Spiels nicht mehr zu sein, und doch ist es noch erkennbar. Damit hat das Modell wahrscheinlich ausgedient, ist ein gleiches Dazwischen wie dieses Buch und macht Platz für das reine Sehen und Erkennen, eben die Kunst.
Lit.: „Bewegte Bilder", Katalog zu den Ausstellungen in der Ehemaligen Reichsabtei Aachen-Kornelimünster und in der OMC-Galerie, Düsseldorf 2003