Fritz Billeter
In ihren Foto-Arbeiten geht es ihr nicht um Porträt oder Sachaufnahme und schon gar nicht um Reportage. Wohl hat sie schon früh immer wieder historische Bauten aufgenommen; diese dienten ihr jedoch immer schon als Anlass, um Phänomene wie Licht, Raum, Spiegelung, Zeit und Bewegung auszuloten.
In diesem Sinne hat die Künstlerin auch die berühmten Kolonnaden des Barock-Künstlers Gianlorenzo Bernini erforscht. 1656 bis 74 errichtet und aus zwei Doppelreihen von 18 Meter hohen Säulen bestehend, sind der Peterskathedrale vorgelagert. Dabei bereichert Berninis monumentaler Säulengang diesen Platz nicht einfach - er hat ihn überhaupt erst hervorgebracht; der Künstler-Architekt hat im eigentlichen Sinn des Wortes einen "Ort" geschaffen.
Gerade am Beispiel von Kemsas Kolonnaden-Bild lässt sich zeigen, dass die Rezeption eines Kunstwerks durch die Platzierung beeinflusst werden kann. So ist ihr wandfüllendes Werk am Ende eines Korridors der Berliner KfW angebracht, dessen Fensterwand sich auf einen Innenhof öffnet; ihre Brüstung wird durch schlichte Rundpfeiler verstärkt - eine Situation, die an das Kolonnaden-Motiv anklingt und durch Kemsas Motiv fortgeführt und gesteigert wird. Gleichsam scheint es den Blick und den Weg in eine geheimnisvolle Weite zu eröffnen. Zu diesem Eindruck trägt vor allem bei, dass das Berliner Werk wie die meisten Kolonnaden-Fotografien von Gudrun Kemsa "ortlos" wirken. Diese Desorientierung kommt etwa dadurch zustande, dass Kemsa jeweils nur einen (mehr oder weniger schmalen) Ausschnitt aus dem Ganzen ausgewählt hat; die Gestalt der Bernini-Architektur ist gerade auf dieser Arbeit kaum zu erahnen; der Ausschnitt erscheint überdies wie zufällig.
Die Künstlerin hat lediglich sechs Säulen, denen eine siebte gegenübersteht, aus dem Ganzen isoliert; der elliptische Schwung der Kolonnaden-Anlage ist eher nur erahnbar; er ist vor allem dank dem Schattenwurf am Boden nachzuvollziehen. Dass es sich bei jenen sechs hellen, senkrecht verlaufenden Bildelementen um Säulenschäfte handelt, erkennt der Betrachter vielleicht erst auf den zweiten Blick. Die Säulen sind oben so abgeschnitten, dass vom Gewölbe der Kolonnaden nicht zu sehen ist. Darüber hinaus haben die Säulenschäfte kaum Rundung und Volumen aufzuweisen, sie könnten an Bänder oder an einen schweren, gefalteten Vorhang erinnern. Dass es sich in der Tat um Säulen handelt, erkennt man jedoch an der "Erdung", an ihren klar sichtbaren Basen und an ihren Plinthen, den Fußplatten - d.h., man gewinnt erst im Blick auf diese unteren Zonen an Sicherheit.
Kemsa geht es stets um die Auseinandersetzung mit der Wahrnehmung von Licht, Raum, Bewegung und Zeit. Vor allem in ihrer Arbeit für die KfW tritt dabei eine gewollte Ortlosigkeit, Verunsicherung und Desorientierung des Betrachtenden hinzu. Diese Strategie könnte man auch als "Verfremdung" (durchaus auch im Sinn von Brecht) verstehen: Eine Sache, eine Situation, die wir längst zu kennen meinen, wird in einem überraschend neuen Licht gezeigt. Derart wird uns nahe gelegt, dass die Dinge nicht ständig bleiben müssen, wie sie sind, sondern dass sie sich verändern lassen. Indem beispielsweise die sechs Säulen im Berliner Werk noch den höchsten Helligkeitswert aufweisen, werden sie an ihren rechten Rändern bereits durch schwarzbraune Schatten "angesengt". Die Künstlerin hat selbst einmal die "Ambivalenz" des Lichts hervorgehoben, welche die Dinge sowohl offenbaren als auch verbrennen könnte. Die schwarzbraune Versenkung an den Säulen suggeriert den sprichwörtlichen "Zahn der Zeit": Eine Architektur ein Monument, die Kolonnaden von Bernini - scheinbar für die Ewigkeit geschaffen - beginnen bereits, Ruine zu werden. ist in Wahrheit schon Ruine.
Lit: Kunsträume I - Der installierte Raum, Die Sammlung der KfW Bankengruppe, Chorus-Verlag für Kunst und Wissenschaft, Mainz 2007