Martin Hochleitner

 

Zum peripatetischen Blick von Gudrun Kemsa

 

Die Bilder von Gudrun Kemsa sind in Bewegung. Dem entsprechen programmatische Werk-, Buch- und Ausstellungstitel wie "Bewegte Bilder", "Choreographien", "Merry-go-round", "Look around" und "Moving Images". Gleichzeitig beschreibt die Feststellung differenzierte Zustände in einem Werk, das bislang von gegenläufigen Polarisierungen der jeweils spezifischen Eigenschaften des fotografischen und filmischen Bildes bestimmt wurde.

 

In beiden Medien reagiert die Künstlerin auf räumliche Situationen, in denen sich zumeist Menschengruppen oder Einzelpersonen bewegen. Großteils handelt es sich um öffentliche, meist urbane Räume im Außenbereich wie Straßen, Promenaden, Plätze und Parks, die sich vor Hochhäusern, Geschäften, Glasfassaden, Betonwänden, Treppenanlagen und sonstigen Architekturelementen sowie vor Palmen, Wolken- und Himmelsausschnitten wie kulissenartige Szenerien präsentieren.

 

Im vorliegenden Buch dokumentiert Gudrun Kemsa die Videoarbeit "Las Vegas Freeway 15" von 2008 und insgesamt …. Fotografien aus den Jahren 2009 und 2010. Ihre Titel wie "Venice Beach", "Columbus Avenue", "Lexington Avenue", "Broadway", "Fifth -, Sixth - und Eight Avenue", "Schiffbauerdamm", "Quai Mauriac", "Place de la Défense", "La Corniche", "Al Merraija" und "Burj Khalifa" schaffen zwar eine konkrete Verortung jedes einzelnen Bildes, erweisen sich allerdings auch als Stereotypen von öffentlichen Räumen in unterschiedlichen geografischen und kulturellen Kontexten.

 

Die dabei im fotografischen Bild festgehaltene Bewegung von Menschen an diesen Orten wird in den Videoarbeiten Kemsas nicht nur als Handlung ersichtlich, sondern durch die selbst bewegte Kameraführung in einen zusätzlichen Ablauf eingebettet. Indem Gudrun Kemsa schließlich Filmaufnahmen in einer scheinbar endlosen Schleife aneinander reiht und wie bei "Las Vegas Freeway 15" fantastische Landschaft, märchenhafte Gebäude, aber auch nüchterne Baustellen kulissenartig an den Betrachterinnen und Betrachtern vorbeiziehen, entstehen in ihren Arbeiten komplexe Aggregatszustände von realen, medienspezifischen und konstruierten beziehungsweise generierten Bewegungszuständen.

 

Ähnlich komplex erweisen sich auch die bei Gudrun Kemsa fassbaren Begriffsmodelle von Raum und Zeit, die in ihrer realen Erfahrbarkeit und medialen Wirksam- beziehungsweise Generierbarkeit von der Künstlerin vorgestellt werden.

 

Wenn in den letzten Jahren wie bei Werken von Fiona Tan und David Claerbout, die beide ebenfalls sehr exakt an der medialen Schnittstelle von Fotografie und Film arbeiten, von der Rückgabe der Zeit an das fotografische Bild gesprochen wurde, so war damit vor allem die Auswirkung einer Übertragung eines fotografischen Bilddenkens in das Medium Film gemeint. Exemplarisch filmte Fiona Tan bei ihrem Projekt "Countenance" (2002) Menschen, die wie für eine Fotografie posierten. David Claerbout entschleunigte bei "The Stack" (2002) eine Aufnahmesituation, indem er in einer statisch-fotografisch fixierten Bildeinstellung - ähnlich wie bei Kemsas Arbeit "Rome" (1999) - ausschließlich die allmählichen Veränderungen von Licht und Schatten festhielt.

 

Gudrun Kemsas Bilder besetzen die Schnittstelle von Fotografie und Film durch die Schaffung spezifischer Raum- und Zeitzellen. Sie resultieren einerseits aus dem wechselseitigen Transfer von filmischen und fotografischen Ebenen in den einzelnen Arbeiten und andererseits durch die Simultaneität von unterschiedlichen räumlichen und zeitlichen Zuordnungen in den Bildern. So erscheinen ihre Filme und Fotografien auch niemals situativ im Sinne einer dokumentarischen Erfassung eines konkreten Ereignisses an einem Ort. Statt einem einzigen Raum-Zeit-Kontinuum vermitteln die Bildelemente ihren eigenen Raum und ihre eigene Zeit und erzielen dadurch eine modellhafte Wirkung, die ein Geschehen in einen transitorischen Zustand zwischen Vergangenheit und Zukunft überführt. Jede Person scheint sich in einem individuellen räumlichen, zeitlichen (und auch emotionalen) Zusammenhang zwischen Bild und Wirklichkeit zu befinden; jede Figur folgt einer eigenen raumzeitlichen Logik.

 

Durch diese Aufhebung der gewohnten Kongruenz von zeitlichen und narrativen Strukturen changiert auch der Eindruck von Gudrun Kemsas fotografischen und filmischen Serien zwischen Poetik, Imagination, Fiktion, Irritation und Melancholie, die in den Szenerien und bei den erfassten Personen eine spezielle Daseinsform zwischen Erinnerung und Erwartung begründen. Was auf den ersten Blick wie eine Beobachtung der Wirklichkeit erscheint, erweist sich bei intensiverer Betrachtung als eine Befragung der eigenen Vorstellung von Wirklichkeit. Die Realität einer Situation wird in dem Ausmaß dekonstruiert, in dem Kemsa eine neue Bildrealität konstruiert. Dazwischen entsteht ein szenografischer und ambivalenter Raum mit einer eigenen Gegenwart.

 

Dem entspricht, dass Gudrun Kemsa in ihren Werken auch keine Geschichten erzählt. Es gibt in ihren Arbeiten keinerlei Momente von (dramatischen) Handlungen beziehungsweise Narration. Menschen stehen oder gehen, alleine oder in Gruppen. Manche warten oder telefonieren, andere skaten. Sämtliche Abläufe wirken wie in ein behutsames Gleichgewicht zwischen Stillstand und Bewegung, zwischen dem Fotografischen und dem Filmischen eingebettet.

 

All dies passiert in optisch klaren und einprägsamen Bildern. Die querformatigen Fotografien und Projektionen vermitteln ein präzises, kompositorisches Denken, das in der Bezugnahme auf Linien der Architektur und Landschaft sowie durch die genaue Ausmachung von Fluchtpunkten sehr exakt auf den Begriff eines Panoramas ausgerichtet ist. Hinzu kommt Kemsas besondere Aufmerksamkeit auf Farben, Licht- und Schattensituationen sowie Kontraste, die die Wirkung ihrer Arbeiten und den Modellcharakter der jeweiligen Aufnahme maßgeblich mitbestimmen.

 

In der Präsentation ihrer Videoarbeiten und großformatigen Fotografien erlaubt Kemsas Position eine weitere Bezugnahme auf Fiona Tan und David Claerbout, zumal auch diese durch den installativen Umgang mit ihren Arbeiten zuletzt zentrale Grundfragen nach dem Verhältnis zwischen dem fotografischen, dem filmischen und dem Raum der Betrachterinnen und Betrachter formulierten. Entscheidend war dabei die Koppelung der unterschiedlichen Räume, indem etwa Claerbout wie bei "Rocking Chair" (2003) und "American Car" (2002-2004) versuchte, den Raum der Betrachtung mit dem Bildraum seiner Filme zusammenzuführen. Tan wiederum konzipierte wie bei "n.t. (Leidsestr.)" (1997) die Präsentation ihre Videos in Übereinstimmung mit der passageren Aufnahmesituation ihres Filmes in Berlin und arbeitete bei "Countenance" (2002), "Tomorrow" (2005) und "Correction" (2004) mit einer physischen und fast plastischen Präsenz der verwendeten Projektionsleinwände.

 

Bei Gudrun Kemsa wird die Raumfrage stärker über den Bezug der Kamera zur fotografierten beziehungsweise gefilmten Situation gestellt. So deutlich sich die Künstlerin auch im Referenzraum von Wechselwirkungen zwischen Film, Fotografie und Zeitbegriffen beziehungsweise -vorstellungen verorten lässt, so sehr definiert das Moment der Bewegung wiederum spezifische Eigenschaften in ihrem Werk.

 

Damit ist insbesondere die Bildpräsenz von Kemsas Blickperspektive gemeint: Sie schafft ein visuelles System, das nicht nur im Bereich des Filmes, sondern auch in dem der Fotografie die Wahrnehmung von Bewegung, Zeit und Raum zulässt. Die Apparatur der filmischen und fotografischen Kamera gerät in Kombination mit den zuvor beschriebenen kompositorischen Bildüberlegungen und der Konstruktion von filmischen Abläufen zum dritten Auge, das eine subtile Kongruenz mit der Wahrnehmungsebene erzeugt. Oder anders gesagt: Die fotografischen und filmischen Bilder Kemsas funktionieren für die Betrachterinnen und Betrachter weniger als eine bloße Aufnahme, denn als Möglichkeit, ein spezifisches Bilddenken nachvollziehen zu können. In Verbindung mit den Drehbewegungen beziehungsweise dem kontinuierlichen und nicht abreißenden Strom von filmischen Informationen wird dadurch auch die Wahrnehmungssituation grundsätzlich verändert: Das plötzliche Gefühl sich selbst zu bewegen, schärft die Aufmerksamkeit auf das Bezugssystem von filmischem und realem Raum, relativiert das Bewusstsein der eigenen Präsenz im tatsächlichen Raum und der realen Zeit und betont schließlich die Körperlichkeit des Sehens.

 

Der Begriff des peripatetischen Blicks steht dabei - in Anlehnung an die philosophische Schule des Aristoteles und an seine beim Gehen vollzogenen Entwicklung von Gedankengängen - symbolisch für Kemsas Aufmerksamkeit auf das Moment der Bewegung an sich. Damit kehrt das Ende des Textes auch an seinen Anfang zurück und schließt damit einen Kreis, der von der Künstlerin immer wieder aufs Neue begonnen wird: Die Bilder von Gudrun Kemsa sind in Bewegung ...

 

Lit: Gudrun Kemsa - Urban Stage, Kehrer Verlag, Heidelberg 2010