Ute Bopp-Schumacher

Selbstversunkene Passanten, Schwimmer und Ausstellungsbesucher - Anmerkungen zur Ausstellung Die Welt als Bühne#

 

"Hat man nicht schon in hunderttausend

Gesichter geblickt?  Diese Erfahrung ist das

Gegenteil der >repräsentativen Auswahl<:

es ist die Wahrheit der physischen, linearen Zahl.

Mit wievielen hat man es denn zu tun im 

Verlaufe eines normalen Lebens, mit 

wievielen, wo Worte oder längere Blicke 

getauscht wurden - von der Mutter, bis zu den 

vielen, die einem mal nach der Straße 

fragten?   Vorübergehend sein und bleiben."[1]

 

Botho Strauß

 

Drei Künstlerinnen im Blickfeld

Im Frühjahr 2016 teilen sich in der Neuen Galerie des Haus Beda in Bitburg drei Künstlerinnen eine Bühne: Gudrun Kemsa, Carole Feuerman und Veronika Veit. Trotz der sehr verschiedenartigen künstlerischen Ansätze und Lebenswege gibt es Überschneidungen und Gemeinsamkeiten: Wie zum Beispiel die Tatsache, dass alle drei Künstlerinnen Bildhauerei studierten; Gudrun Kemsa ihre Straßenfotografien bevorzugt in Manhattan realisiert, wo Carole Feuerman lebt; Veronika Veit eine Reihe von 'kleinwüchsigen' Schwimmern kreierte, die von Motiv und Pose her Gemeinsamkeiten mit Carole Feuermans dem Wasser entstiegenen Plastiken haben. In der Ausstellung treten die Arbeiten der drei Künstlerinnen miteinander in Beziehung. Als eine kleine Retrospektive sind verschiedene Werkserien Gudrun Kemsas in allen Räumen und Nischen zu sehen. Sie bilden den Fond für den Auftritt der bildhauerischen Arbeiten von Carole Feuerman und Veronika Veit, wobei von diesen jeweils nur eine Werkgruppe vorgestellt wird.

Gudrun Kemsa
Spezialisierung auf Fotografie und Film nach dem Studium der Bildhauerei


Gudrun Kemsa studierte von 1980 bis 1990 an der Kunstakademie Düsseldorf Bildhauerei bei Karl Bobek und dem aus Kanada stammenden David Rabinowitch[2]  und wurde 1985 Meisterschülerin. Als begeisterte Fotografin seit ihrer späten Schulzeit dokumentierte sie alle bildhauerischen Arbeiten auch fotografisch. Gegen Ende ihres Studiums konzentrierte sie sich dann zunehmend auf ihre Fotografien, die sich mit eher bildhauerischen Fragestellungen wie Raum und Zeit befassen, zumal sie mit diesen Arbeiten frühe Anerkennungen in Form von Preisen und Stipendien bekam. In den 1990er Jahren entdeckt sie auch das Medium Video für sich, das sie gerne mit eigens für ihre Werke komponierten, zum Bildrhythmus passenden Musikstücken unterlegt. Nach einigen Stipendien und Lehraufträgen ist sie seit 2001 als Professorin für Fotografie und Bewegte Bilder an der Hochschule Niederrhein in  Krefeld tätig, wo sie angehende Designstudenten in den Fächern Fotografie / Film, Digitale Bildmedien und Experimentelle Mediengestaltung unterrichtet.[3]

 

Manhattan Videoinstallationen

Im Sommer 2015 filmt Gudrun Kemsa New York bei Nacht, in Weit- und Nahsicht mit unendlich vielen Lichterquellen und -reflexen. Silhouetten von bekannten Bauwerken und ungewöhnliche Blickachsen ziehen in rascher Bilderfolge vorbei. Die Künstlerin fängt den nächtlichen Puls der Stadt in einem Raum-Zeit-Kontinuum ein, das keinerlei dokumentarischen Charakter hat. Die 'Drehbücher' für ihre Videos hat sie im Kopf, wie sie im Gespräch bemerkte. Ihre Schritt- und Fahrgeschwindigkeiten diktieren den Fluss der ineinander übergleitenden Einzelbilder. Die Kurzvideos sind die Basis für Kemsas Manhattan-Videoinstallationen, in denen die Reize der nächtlichen Metropole durch das zeitversetzte, miteinander verschnittene, zweikanalige Abspielen, verstärkt zum Ausdruck kommen.[4] Die Betrachter der Kurzfilme bewegen sich im von der Künstlerin vorgegebenen Rhythmus durch Zeit und Raum und werden - ohne vor Ort zu sein - zu nächtlichen Flaneuren.

Die Manhattan-Videoinstallationen bilden den Auftakt der Bitburger Ausstellung und werden im Vorraum der Neuen Galerie zusammen mit einigen mittelgroßen New York-Straßenfotografien und kleinformatigen, noch nie gezeigten Aufnahmen der New Yorker Highline präsentiert.

Bei der Videoinstallation über die New Yorker Subway zeigt Gudrun Kemsa wiederum auf zwei Kanälen einen mit Passanten gefüllten Bahnsteig bei Ankunft einer Bahn und die Leere nach Abfahrt derselben. Der Film konzentriert sich auf einen Ablauf, wie er sich unendlich oft, Tag für Tag, an den verschiedensten Haltestellen von Nahverkehrszügen immer wieder ereignet. Die Untermalung der knapp dreiminütigen Videoinstallation mit den Originalgeräuschen der New Yorker Untergrundbahn erhöht die Authentizität der Situation. Auf den Filmstills der Videoarbeit sind einzelne auf die Bahn wartende Personen zu erkennen. Diese wie die durch die Waggonfenster sichtbaren Fahrgäste haben trotz einer gewissen Unschärfe eine körperliche Qualität, die an die Passanten auf Kemsas Straßenfotografien erinnern. Hier wie dort nehmen Betrachter im Vorübergehen für einen kurzen Moment an der Privatsphäre anonymer Personen teil.

Manhattan Stage / Urban Stage

Die ebenfalls im Sommer 2015 realisierte Werkfolge Manhattan Stage knüpft inhaltlich an die 2010/2011 entstandene Serie Urban Stage an. Auf diesen primär in New York entstandenen Straßenfotografien geraten zufällig anwesende, die Geschäftsstraßen und Boulevards entlanggehende Personen ins Blickfeld von Gudrun Kemsas Kamera. Die vor renommierten Kaufhäusern und Flagship-Stores bekannter Marken aufgenommenen Straßenszenerien entstehen mit einer Panoramakamera und einem starken Teleobjektiv aus einer weiten räumlichen Distanz, ohne dass die Abgelichteten davon etwas mitbekommen. Die Künstlerin fotografiert die Figurenpanoramen bevorzugt in der Mittagszeit unter hellem, scharfem Licht, was an den langen Schatten der Passanten zu erkennen ist. Die flächigen, langgestreckten Bilder erscheinen wie eine Art Filmstill. Von der Hektik der Großstadt ist angesichts der alleine oder in kleinen Gruppen hintereinander oder aneinander vorbei Gehenden wenig zu spüren. Die Menschen auf Gudrun Kemsas Bildern sind Stellvertreter für Millionen Passanten, die ihren unbekannten Zielen zusteuern. Telefonierend, selbstversunken, in Gedanken und ihrem Tun verstrickt, entwickeln die prototypischen Figuren vor den mächtigen architektonischen Kulissen eine körperliche, teilweise fast skulpturale Präsenz. Ihr Aussehen, ihre Mimik und Gestik, ihre Art, sich zu bewegen und nicht zuletzt ihre Kleidung, kurzum ihre visuelle Erscheinung, sind die einzigen Anhaltspunkte zu deren individuellen Lebensgeschichten. Letztendlich aber nehmen wir die abgelichteten Personen als Typen wahr, wie sie uns an vielen Orten jederzeit begegnen könnten. Kemsas Aufnahmen, die einerseits einen Zeitablauf an einem lokalisierbaren Ort festhalten, sind andererseits zeitlose Bilder. Mit Momentaufnahmen haben diese fotografischen Werke nichts gemein.

Während sich bei der Serie Urban Stage die Schauplätze des Geschehens nur Kennern der Lokalitäten anhand der markanten Fassaden und Architekturausschnitten erschließen, legt Gudrun Kemsa bei den Manhattan Stage Arbeiten erkennbar mehr Wert auf die Identifizierung der Örtlichkeiten. Bei den von ihr gezielt ausgesuchten Bildhintergründen dieser Serie, meist effektvoll inszenierte Schaufenster mit sichtbar platzierten Geschäftsnamen, handelt es sich um narrative Bühnenbilder, die bei den Betrachtern Assoziationen evozieren und Wiedererkennungseffekte auslösen.

Choreographien

Menschen unterwegs und in Bewegung stehen auch im Zentrum der 2006 entstandenen Serie Choreographien, die in Paris, in der Bürostadt La Defense auf den großen Treppenanlagen der Grande Arche aufgenommen wurden. Gudrun Kemsa lichtet die Passanten auf der obersten Stufe der monumentalen Treppe vor hellblauem Horizont ab. Der graue Beton der oberen Treppenstufe ist das schmale Fundament, sozusagen die Bühne, auf der die 'portraitierten', besser zufällig erfassten Figuren vor einem breiten Band weißblauen Himmels, der Kulisse, agieren. Die langgestreckten Panoramen, die als Doppelbilder konzipiert sind und als unendlicher Bilderfries denkbar wären, sind von einer der unteren Treppenstufen aufgenommen. An sich aber geben die Bilder keine Hinweise auf den Ort des Geschehens. Die in den Fokus genommenen Figuren sind alleine oder in kleinen Gruppen unterwegs. Viele schauen auf den Boden, weil sie im Begriff sind, die - für die Betrachter nicht sichtbaren - Treppenstufen nach unten zu gehen. Nur wenige blicken aus dem Bild. Andere, die die Treppe bereits nach oben geschritten sind, sehen wir als Rückenfiguren auf dem Weg zu ihren Bestimmungsorten. Touristen mischen sich mit Büroangestellten. Der Weg der Passanten gleicht einem Schauspiel, das täglich mit wechselnden Akteuren in neuen Kostümen gegeben wird. Auf die Choreographie des Geschehens hat die 'Regisseurin' nur insofern Einfluss, als sie ihre Protagonisten aus einer Vielzahl von Passanten beim Drücken des Auslösers der Kamera festhält und später beim Sichten ihrer Aufnahmen, diejenigen auswählt, die ihr zusagen. Klaus Honnef verglich die himmelstürmenden,  vor einem "unbestimmten Irgendwo" agierenden Menschen mit den "Prospekten des Barock in Kuppeln der Kirchen und Kathedralen". [5] In jedem Fall sind sie Sinnbilder der geschäftigen modernen Großstadtflaneure im alltäglichen 'Hamsterrad'.

Bildgenese
Angesichts von Gudrun Kemsas fast filmartig anmutenden, glaubwürdig und real wirkenden Straßenfotografien stellt sich die Frage, mit wieviel nachträglicher Bearbeitung die fertigen Bildwerke entstehen? Wie sehr die Künstlerin ihre Straßenaufnahmen inszeniert und mit welchem technischen Aufwand? Als Professorin für dieses Fachgebiet ist sie mit bildverarbeitender Software natürlich bestens vertraut. Ausgangspunkt all ihrer Werke sind immer die Originalfotografien, für deren Gelingen überzeugende, stringente  Bildkonzeptionen, perfekte Standorte, ideale Zeitpunkte und Wetterverhältnisse etc. entscheidend sind. Im Nachhinein entfernt sie dann in filigraner Computerarbeit einzelne Werbe- und Hinweisschilder, retuschiert ausgetretene Kaugummis auf Bürgersteigen weg, eliminiert einzelne Figuren oder versetzt diese an andere Standorte, bis der Bildrhythmus stimmt, überarbeitet Farben usw.[6] Die einzelnen Versatzstücke, wie die von ihr aufgenommenen Passanten,  belässt sie aber als unbeeinflusste authentische Wirklichkeitsbestandteile. So ist es angesichts jeder Arbeit von Gudrun Kemsa spannend zu überlegen, wo und wie die Künstlerin die abgebildeten Szenen aktiv mitgestaltet hat, welche 'kosmetischen' Nachbehandlungen vorgenommen wurden, aus wie vielen Wirklichkeitsebenen sich ein Bild generiert. Das Lesen der künstlerisch gestalteten Welten schult den Blick für die Bildmanipulationen, denen wir alltäglich ausgesetzt sind.

Videoinstallationen Villa V und Villa Adriana

Der Ausgangspunkt für Gudrun Kemsa Videoinstallation Villa V ist ein filmischer Rundgang durch die Räume und den Garten eines von außen eher abweisenden Gebäudes in Viersen, das sich im Inneren als eine lichtdurchflutete Bauhausvilla entpuppt. Diese plante der Architekt Bernhard Pfau -"V" - Anfang der 1930er Jahre für die Unternehmerfamilie Kaiser. Nach mehreren Besitzerwechseln führte die heutige Eigentümerin - eine Innenarchitektin - die Räume in ihr ursprüngliches Aussehen zurück. Im Filmportrait bewegt sich die in monochromes Grün gekleidete Dame souverän und selbstverständlich durch ihre Räume. Das meditativ ruhig gedrehte Video unterstreicht die Inbesitznahme des Ortes durch seine Bewohnerin und macht neugierig auf das seit 2015 zeitweise auch öffentlich zugängliche Haus. Erneut bedient sich Gudrun Kemsa des Stilmittels der zeitversetzten, parallelen Wiedergabe ihres ursprünglichen Films auf zwei Kanälen. Durch ihre subtilen Schnitte gleiten einzelne Filmaufnahmen von einer 'Filmspur' auf die andere Seite und sind zu einem rätselhaften Double miteinander verzahnt. Das Video über die  Villa V ist ein Novum in Kemsas umfangreichen filmischen Oeuvre, insofern als die Künstlerin hier neben einem Gebäude erstmals eine damit in Verbindung stehende Person länger in den Fokus nimmt.

Auch das Filmportrait über die Villa Adriana oder Hadriansvilla bei Tivoli unweit von Rom inszeniert Gudrun Kemsa als zeitversetztes zweikanaliges Seherlebnis. Das  imposante Landschaftsareal  mit prunkvollen Ruinen und Gartenanlagen wird in der über 15-minütigen Videoarbeit in ruhiger Taktung eindrucksvoll vor Augen geführt. In Bitburg stellen sich bei der Betrachtung dieses Landschaftsportraits mit den römischen Ruinen Assoziationen an die nahe gelegene Stadt Trier ein, die bis heute nachhaltig von ihren 2000 Jahre alten römischen Monumenten geprägt ist.

 

Fotografisches Frühwerk

In der hinteren Nische des großen Ausstellungsraums werden auch einige der frühen Arbeiten von Gudrun Kemsa vorgestellt: Während die Künstlerin heute fast ausnahmslos in Farbe arbeitet, begann sie Mitte der 1980er Jahre, noch als Studentin, in Schwarz-Weiß profane und sakrale Architekturansichten aus extremer Unter- oder Aufsicht in kleinen Serien zu fotografieren. Fenster mit ihren Laibungen, leicht geöffnete Türen, durch die Licht einströmt, Hauswände, auf denen sich das Licht spiegelt, Aufblicke in enge Straßenfluchten und Kuppeln, waren ihre oft nicht näher lokalisierbaren Motive. Sie folgte dem Licht und seinen Spuren und reduzierte Architekturen auf geometrische, zweidimensionale Formen. Das Arbeiten mit Überbelichtung oder Gegenlicht führt zu verfremdenden Effekten wie verschwimmende Binnenkonturen und im Bild auftauchende weiße Flecken. Auf dem Boden liegend fotografierte Gudrun Kemsa Kuppelansichten und Pendentife, mit dem Resultat, dass sich diese in Muster und Strukturen auflösen. Im Gegenlicht aus extremer Untersicht aufgenommen, wirkt der Leuchter in der Kuppel der Verkündigungskirche in Jerusalem wie die Silhouette eines Ventilators. Kemsas Aufnahmen der Kolonnaden von Sankt Peter nehmen das Licht- und Schattenspiel auf dem unteren Teil der Säulenreihen am Petersplatz ins Visier. Die mystischen Hell-Dunkel-Kontraste auf dem Boden und zwischen den Säulen erzeugen eine geheimnisvolle Atmosphäre, die die Aura des Ortes unterstreicht.  Von ihrer Bewegtheit, Unschärfe und panoramaartigen Anlage sind diese Arbeiten fast eine Vorwegnahme von Kemsas Jahre später entstandenen Bewegten Bildern.[7]  

Der Rückblick auf das Frühwerk verdeutlicht nochmals einige Konstanten und Charakteristika von Gudrun Kemsas Arbeit, die sich wie ein roter Faden durch ihr fotografisches und filmisches Oeuvre ziehen:  1. Das Motiv der Bewegung - die Bewegung der Kamera, um Bilder zu realisieren, die im Bild festgehaltene, den Blick der Betrachter sogartig anziehende Bewegung, bis hin zu der Bewegung, die die Fotografin von Betrachtern einfordert, wenn diese ihre friesartig aneinandergereihten Straßenaufnahmen 'abschreiten'. 2. Die Vorliebe für ungewöhnliche Blickwinkel, insbesondere Aufblicke und Aufnahmen aus der Froschperspektive. 3. Die meist auf solidem Boden, Straßen, Bürgersteigen und Plätzen verankerten Aufnahmen, 4. Die Faszination für Licht, dem die Künstlerin an vielen Orten und zu den verschiedensten Tages- und Nachtzeiten folgt und dem sie je nach Bildkonzeption eine mal mehr oder weniger große Bedeutung zukommen lässt.  

 

Carole Feuerman - Künstlerische Anfänge

Nach ihrem Bachelor of Fine Arts im Jahr 1967 arbeitet die 1945 geborene Künstlerin und Mutter dreier Kinder, Carole Feuerman, zunächst als Illustratorin, unter anderem für Publikationen der Rolling Stones. Eine ihrer Illustrationen für Alice Coopers World Tour Book wurde Jahre später in der New York Historical Society ausgestellt und war Carole Feuermans erstes Exponat in einer Museums-Ausstellung. 1979 beschließt sie, ihre eigenen Ideen umzusetzen statt das Werk anderer visuell zu erläutern. Und beginnt, bildhauerisch zu arbeiten. Bereits 1980 entstehen ihre ersten Schwimmer mit den auf der Haut abperlenden Wassertropfen. Das war der Anfang einer fulminanten Karriere mit zahlreichen Museums-Ausstellungen und Einzelpräsentationen in Galerien. Feuermans Arbeiten sind heute in neunzehn amerikanischen Museen und zahlreichen öffentlichen und privaten Sammlungen vertreten.[8]

Die ungebrochene Anziehungskraft des Hyperrealen

Angesichts der in sich versunkenen Schwimmerinnen und Schwimmer von Carole Feuerman verschwimmen die Grenzen zwischen Realität und Kunstfigur. Die hyperrealistischen, häufig lebensgroßen, meist weiblichen Plastiken der amerikanischen Künstlerin ziehen Blicke magnetisch an, nicht zuletzt auch wegen ihrer erotischen Reize. Auffallend ist die körperliche Fitness der Figuren. Häufig zeigt Feuerman Menschen in intimen privaten Momenten -  in Gedanken entrückt, auf die Schwimmbewegung konzentriert, aus dem Wasser kommend, sich abtrockend. Aufgrund der geschlossenen oder von Schwimmbrillen verdeckten Augen bleibt das Seelenleben der äußerlich entspannten Wesen unter der Außenhaut unergründlich verborgen. Die auf der Hautoberfläche abperlenden Wassertropfen lenken die Aufmerksamkeit der Betrachter auf die minutiös, bis ins kleineste Detail realistisch  widergegebene Haut der Plastiken, wie zum Beispiel die  leicht bläulich unterlaufenen Bartporen der Delphin-schwimmenden Männerbüste Butterfly. Carole Feuermans menschliche Figuren sind auch Sinnbilder der heutigen Zeit, in der in den westlichen Industrieländern viele Menschen versuchen, den von der Film- und Werbewelt inszenierten 'Ikonen' zu entsprechen.

Carole Feuermans Schwimmer vor Gudrun Kemsas menschenleeren Pools

 

In der Bitburger Ausstellung gehen Feuermans 'Badende' eine gelungene Symbiose mit Gudrun Kemsas menschenleeren Hotelpools ein, die im ersten Ausstellungsraum vorgestellt werden. Die in der Dämmerung und Nacht aufgenommenen, von künstlichem Licht angestrahlten Pools beeindrucken durch magisch blaue, leicht bewegte Wasseroberflächen. In vollkommender Ruhe ohne Gäste haben sie die Anmutung kleiner Paradiese. Carole Feuermans Schwimmer erscheinen im Umfeld dieser Urlaubsoasen fast wie die Halluzination der fehlenden Gäste.

Hyperrealistische Bildhauerin

 

Carole Feuerman gehört zu den hyperrealistischen Bildhauern, deren bekannteste männliche Vertreter Duane Hanson (1925 –1996) und John de Andrea (*1974) sind. Während letzterer sich auf Akte von schlanken jungen Frauen und Liebespaaren spezialisierte, präsentierte Duane Hanson ungeschönte Vertreter der amerikanischen Mittel- und Unterschicht - Hausfrauen, Putzfrauen, Touristen etc. - mit allen Klischees und körperlichen Unzulänglichkeiten wie Fettsucht, mit Lockenwicklern, in Shorts und Hawaihemd, mit vor dem Bauch baumelnder Kamera. Mit den von ihrem Leben gezeichneten Menschen, das sich in deren Physiognomien widerspiegelt, übte Hanson auch massive soziale Kritik und 'zeichnete' ein amerikanisches Gesellschaftsbild.[9] Dagegen stehen Feuermans Werke in der klassizistischen Tradition und sind dem Ideal des Schönen und Erhabenen verpflichtet.

Skulpturen oder Plastiken?

 

In der Bildhauerkunst versteht man unter der Bezeichnung Plastiken Werke, die in einem additiven Verfahren aus formbaren Materialien geschaffen werden. Hierunter fallen aus Bronze und anderen Metallen, Glas, Kunststoff, etc. geschaffene körperhafte Gebilde sowie aus modellierbaren Materialien wie Ton, Gips, Porzellan, Wachs, etc. hergestellte Werke.[10] Insofern ist für die Abformung von Körpern und Körperteilen und deren Abguss in Polyesterharz und anschließende farbige Ausgestaltung mitsamt Haaren, die Carole Feuerman in langwieriger minutiöser Präzisionsarbeit  vornimmt, die kunsthistorisch richtige Bezeichnung für ihre Werke Plastik. 

Skulpturen dagegen werden aus einem bereits vorhandenen Material wie Stein, Holz, Bein etc. herausgearbeitet. Hierzu zählen beispielsweise auch Veronika Veits geschnitzte Holzfiguren. 

Veronika Veit - Künstlerfreunde 

Gudrun Kemsa schlug die Bildhauerin Veronika Veit als Künstlerin vor, die zusammen mit ihren Arbeiten in Bitburg ausgestellt werden könnte. Die beiden Künstlerinnen lernten sich 2012 in Salzburg in der Stadtgalerie bei der Gruppenausstellung Quartier/Stadt/Erfahrung kennen. 

Ein breit gefächertes Oeuvre

Der aus München stammenden Künstlerin Veronika Veit, die ebendort an der Kunstakademie Bildhauerei und auch einige Semester Kunstgeschichte studierte, gelingt es immer wieder, mit ihren Skulpturen, Installationen, Fotografien und Videos, Betrachter zu irritieren und in Staunen zu versetzen. Einfache alltägliche Gegenstände entwickeln in ihren Werken ein verblüffendes Eigenleben, das sie plastisch und mit leiser Ironie, mehrdeutig vor Augen führt.[11] Seit 2006 verwirklicht sie auch Werkgruppen mit menschlichen Figuren, die sie bis zu diesem Zeitpunkt bewusst in ihrem Schaffen ausgeklammert hatte. 

Der Ausstellungsraum als Bühne

 Die fünfzehn in Bitburg im großen Ausstellungsraum präsentierten Figuren von Veronika Veit gehören zu einer Gruppe von 40 Skulpturen, die seit ihrer Fertigstellung in diversen multimedialen Installationen präsentiert wurden.[12] Die stehenden und sitzenden, unterlebensgroßen Ausstellungsbesucher ziehen die Blicke magnetisch an. Ihre Gesichter, Hände, Augen, Haare und insbesondere die Beschaffenheit der Haut hat die Künstlerin lebensecht gestaltet. Auf einigen Händen und Beinen sind mehr oder weniger starke Adern sichtbar. Die Figuren tragen auf den jeweiligen Typ abgestimmte Kleider und Schuhe bis hin zu passenden Accessoires wie Schmuck, Taschen und Notebook.  Mit kleinen Knopfaugen in den leicht erhobenen Köpfen nehmen sie ihr Umfeld ins Visier.

 

Die Figuren, die untereinander nicht kommunizieren, wirken reflektiert. Einige scheinen konzentriert zuzuhören, manche sind in sich gekehrt, wieder andere denken über Gehörtes oder Sonstiges nach. Allesamt handelt es sich um gepflegte, auf sich selbst achtende Menschen, die ausnahmslos der bürgerlichen Schicht angehören und verschiedene Lebensalter und -haltungen repräsentieren. Darüber hinaus scheinen sie kulturell interessierte Bildungsbürger zu sein, die Ausstellungen, Lesungen und Konzerte besuchen.[13] Der Künstlerin ist es gelungen, jede Figur so auszugestalten, dass sie sowohl einen bestimmten Typus als auch eine individuelle Person verkörpert. So ist davon auszugehen, dass sich viele Ausstellungsbesucher angesichts der Skulpturen an ihnen bekannte Personen erinnern werden.[14] Aufgrund ihrer unnatürlichen Kleinheit sind die glaubwürdigen und vertrauten Wesen jedoch stets als Kunstfiguren erkennbar.

 Veronika Veit skizziert mit ihren fiktiven Ausstellungsbesuchern eine Art soziologische Studie der an Kunst und Kultur interessierten Typen. In dieser Hinsicht wandelt die handwerklich versierte Künstlerin auf den Spuren von Duane Hanson. Von dessen wie von Carole Feuermans die Augen täuschen Realismus sind ihre  Hobbit-artigen Figuren jedoch trotz der detaillierten und differenzierten  Ausgestaltung weit entfernt.[15]

 

Veronika Veits Ausstellungsbesucher vor Gudrun Kemsas Straßenfotografien 

Die Aufstellung der Veitschen Figuren in der Neuen Galerie ist in mehrfacher Hinsicht ein 'Heimspiel' der Exponate. Sind diese Werke doch für solche Räume konzipiert. Vor dem Hintergrund von Gudrun Kemsas Serien Urban Stage, Manhattan Stage und Choreographien entfalten die kleinen Menschen jedoch weiteres Potential: Es entsteht eine Korrespondenz zwischen den Skulpturen und den fotografierten Passanten. Deren körperliche Qualität wird im Vergleich mit den kleinwüchsigen Ausstellungsbesuchern deutlicher. Die in einem kurzen Moment zufällig von Kemsa aufgenommenen, authentischen Männer und Frauen, werden durch den Vergleich mit den realen Menschen nachempfundenen Figuren stärker als typisierte Individuen wahrgenommen, wie sie uns immer wieder und überall begegnen. 

Durch die in den  Ausstellungsräumen platzierten Werke  von Veronika Veit und Carole Feuerman verweilen Besucher wesentlich länger an den einzelnen Standorten und nehmen hierdurch auch die mit großem technischen Aufwand realisierten fotografischen Arbeiten von Gudrun Kemsa aus verschiedenen Perspektiven und längere Zeit ins Visier, was dem 'Lesen' und Verständnis derselben zugute kommt.  

Im Sinne des zu Beginn zitierten Schriftstellers Botho Strauß veranlassen uns die Fotografien und Videoinstallationen von Gudrun Kemsa, die physisch präsenten Ausstellungsbesucher von Veronika Veit und die hyperrealistischen Büsten von Carole Feuerman darüber zu sinnieren, wer uns wo und wie schon alles begegnet ist?  Auf den vielen alltäglichen Bühnen, in Innenstädten, auf Straßen, Plätzen, Boulevards, bei Ausstellungsbesuchen in Galerien und Museen, Theatern, im Schwimmbad, am Strand .....?  

Das Leben, ein unendliches Panorama von visuellen Eindrücken, wirklichen und konstruierten Bildern, Begegnungen, Erfahrungen und Erkenntnissen in räumlichen und zeitlichen Kontexten.

Bitburg, im März 2016

Lit: Die Welt als Bühne, Wunderhorn Verlag, 2016


 

[1] Botho Strauß, Paare, Passanten, München 2004, S. 62, nach der 1981 im Carl Hanser Verlag, München, erschienenen Textfassung.

[2] David Rabinowitch lehrte von 1984 bis 2007 an der Düsseldorfer Kunstakademie. Typisch für ihn sind Bodenskulpturen aus massivem Stahl, deren minimalistische Bohrungen, Schnitte, Schlitze neue Strukturen schaffen, die im Kontext zum Ausstellungsort stehen, Schatten werfen und auf raumplastische Zusammenhänge verweisen.von Kemsas   lle ten während Kemsas Villa Massimo-Stipendium entstanden, er.  haben. em zugehörigen Einrichtungen wie Sprungturm on Kemsas   lle ten während Kemsas Villa Massimo-Stipendium entstanden, er.  haben. em zugehörigen Einrichtungen wie Sprungturm

[3] Anna Gripp, Studium in Krefeld. Interview mit Prof. Gudrun Kemsa, in: Photonews, 4/10.

[4] Gudrun Kemsa arbeitet bei vielen Videoinstallationen mit dem zeitversetzten Verbinden des gleichen Films auf zwei Kanälen seit Ende der 1990er Jahre. Ihre erste derartige Videomehrkanalarbeit war der Film Riverside. 

[5] Klaus Honnef, Gudrun Kemsa und die Strassenfotografie, in: Ausstellungskatalog Choreographien, Städtische Galerie Iserlohn (Hrsg.), Heidelberg 2006, S. 31.

[6] vgl. Matthias Harder, Strassenfotografie, Choreografiert, in: Ausstellungskatalog Gudrun Kemsa, Urban Stage, Heidelberg 2010, o. S.

[7] In diesem Zusammenhang sei auf Gudrun Kemsas bewegte Bilder der Reichstagkuppel und des Glas überdachten Potsdamer Platz hingewiesen, in denen die Innenräume der Kuppeln als derwischartige Wirbel erscheinen.

[8] Carole Feuerman, Swimmers, First Edition, New York 2014, vgl. S. 125 ff. Zu den privaten Sammlern zählen auch das japanische Kaiserhaus, Henry Kissinger, Hillary und Bill Clinton,  Malcalm Forbes, Robert Hurt, Ariella Wertheimer und viele andere.

[9] Gregory Crewdson, Duane Hanson Unheimliche Wirklichkeiten. Ausstellungseinführung Website des Frieder-Burda-Museums Baden-Baden, 27.11.2010 - 6.3.2011.

[10] Der Kunst-Brockhaus, Band 2, Mannheim 1987, vgl. S. 9.

[11] Zum Beispiel einen Heizroller aus Glasfaserbeton, aus dem eine gleichfarbige, undefinierbare breiige Masse quillt, ein blaues Handtuch, das als in Falten geworfener Umhang auf einer Metallplatte liegt und einen Ausguss umhüllt, etc. Siehe hierzu Katalog Veronika Veit, substitute, upstairs berlin (Hrsg.), Bielefeld, o. J.

[12] Die Ausstellung Auf Augenhöhe mit den 40 Ausstellungsbesuchern wurde im KunstRaum-Hüll, Kunstverein Ludwigshafen und der Stadtgalerie Saarbrücken gezeigt.

[13] Barbara Auer, Von Angesicht zu Angesicht, in: Die Wirklichkeit der Zwerge, in Ausstellungskatalog Auf Augenhöhe, KunstRaum-Hüll, Kunstverein Ludwigshafen, Stadtgalerie Saarbrücken, Nürnberg 2008, vgl. S. 7.

[14] ebd., vgl. S. 7.

[15] Ernest W. Uthemann, Die Wirklichkeit der Zwerge, in Ausstellungskatalog Auf Augenhöhe, KunstRaum-Hüll, Kunstverein Ludwigshafen, Stadtgalerie Saarbrücken, Nürnberg 2008, vgl. S. 33.