Martin Hochleitner

 

Moving Portraits

 

„Moving Portraits“ heißt eine Werkgruppe der in Düsseldorf lebenden Künstlerin Gudrun Kemsa. Die Serie umfasst bislang zehn Videoarbeiten, die zwischen 2016 und 2019 in Salzburg entstanden. Jeder Film porträtiert einen Menschen und eine Kultureinrichtung in einem feinfühlig kompilierten räumlichen Setting.

Kemsa entwickelte das Konzept von „Moving Portraits“ als Reaktion auf einen ersten Besuch in Salzburg im März 2016. Unter dem Eindruck der - als Weltkulturerbe ausgewiesenen - Stadt und der Präsenz von Kulturinstitutionen entstand die Idee, ein zuvor in Viersen erstmals realisiertes filmisches Porträt von Gerda-Marie Voß in der Villa V nun in größerem Umfang umzusetzen und damit auf ein vielgestaltiges Porträt von personen- und raumbezogener Kulturarbeit in Salzburg zu erweitern. In Kooperation mit dem Salzburg Museum begann die Künstlerin im Zuge regelmäßiger Aufenthalte eine Recherche zu den Kultureinrichtungen, die sie mehrfach besuchte und auf sich wirken ließ, um schließlich insgesamt zehn Einrichtungen für ihre „Moving Portraits“ auszuwählen. Von Anfang an wollte Kemsa kein vollständiges Bild aller Kulturangebote in Salzburg liefern und damit einen wie auch immer bestellten dokumentarischen Ansatz verfolgen. Vielmehr war es ihr Ziel, Atmosphären von Institutionen exemplarisch einzufangen und Blicke auf Menschen und Räume in Salzburg als persönliche Entdeckungen sichtbar zu machen. Mehr und mehr fokussierte sich Kemsas Aufmerksamkeit zudem auf Institutionen, die u.a. als Galerie, Kunstverein und Museum Kunst präsentieren bzw. Themen der Kunst- und Kulturgeschichte vermitteln, oder Orte, die u.a. als Schloss, Kloster und Festspielhaus auch spezielle kunst- und architekturhistorische Relevanz besitzen. In Summe umfassen die „Moving Portraits“ ein institutionelles Spektrum, das von einer Galerie für zeitgenössische Kunst über Mozarts Geburtshaus bis zu einem Museum des ältesten Klosters im deutschen Sprachraum reicht.

Sie alle bilden im Projekt Kemsas den Rahmen für Porträts von Menschen und Räumen, die die Künstlerin in Form von präzisen Settings erfasst. Ihr Blick fällt auf Personen, die die ausgewählten Institutionen leiten und in der Öffentlichkeit repräsentieren. Kemsas Interesse gilt jedoch weniger den Funktionen der Menschen als ihrer Wirkung in den von ihnen verantworten Räumen – in Bezug u.a. auf die Aura des historischen Ambientes und die Geschichtsträchtigkeit oder Zeitgenossenschaft von Orten.

Entscheidend für die Wirkung jedes einzelnen Porträts ist dabei zweierlei: Einerseits die „Bildkomposition“, die Kemsa zwischen Inszenierung und Beobachtung von Personen in Räumen anlegt. Andererseits die mediale Ebene, zumal sich Kemsa bewusst entschied, ihre Porträts von Menschen nicht nur als Filme, sondern zudem mit einer sich langsam drehenden Kamera und somit als „Moving Portraits“ zu realisieren.

Aus beiden Aspekten von formaler und medialer Konzeption resultiert eine intensive Wirkung der Porträts, denen eine besondere Dauer des vergänglichen Moments der Aufnahme verliehen scheint und damit auch über Fragen von Zeit und Zeitlichkeit nachdenken lassen.

Unter eben diesen Gesichtspunkten erweisen sich die „Moving Portraits“ auch als eine konsequente Weiterentwicklung von Kemsas künstlerischer Arbeit, die sich seit knapp drei Jahrzehnten und in Serien wie „Bewegte Bilder“, „Choreographien“, „Merry-go-round“, „Look around“, „Rhythm of Life“, „Moving Images“ und „Urban Sage“ an der Schnittstelle von Fotografie und Film mit der Erfassung von Menschen und Räumen sowie der medialen Formationen von Bewegung beschäftigt.

Während Menschen allerdings bei den früheren Projekten Kemsas grundsätzlich anonym bleiben, sind sie – zumindest in Kenntnis der österreichischen Kunst – und Kulturbetriebs - bei den „Moving Portraits“ nicht nur namentlich bekannt, sondern auch mit ihrer Position und in ihren institutionellen Zusammenhängen fassbar. Und trotz der Annahme, dass dieses Wissen im Laufe der Zeit sukzessive schwinden wird, trifft gerade diese Beobachtung zur doppelten Lesbarkeit jedes einzelnen Filmes einen zentralen Ansatz des Gesamtprojektes an sich: Denn die „Moving Portraits“ funktionieren sowohl als ein personifizierter Ausschnitt der gegenwärtigen Kulturarbeit in Salzburg als auch eine Typologie zu diesen Berufsbildern in einer mitteleuropäischen Stadt im frühen 21. Jahrhundert.

Genau an diesem Punkt ergibt sich eine bemerkenswerte Analogie zwischen Kemsas „Moving Portraits“ und August Sanders „Menschen des 20. Jahrhunderts“. Sander hatte in seinem fotografischen Langzeitprojekt zwischen den 1920er- und den 1960er-Jahren versucht, eine Gesellschaft über seinerseits definierte Gruppen abzubilden und hierfür gerade den Typen verschiedener Berufe hohe Aufmerksamkeit geschenkt. Dabei war es Sander ebenso wichtig, Personen nicht in seinem Atelier zu fotografieren, sondern ihnen am Arbeitsplatz zu begegnen und – trotz der Konzentration auf den Menschen – wiederholt auch räumlich Bezüge sichtbar zu machen.

Kemsas Porträts verorten sich in vielfach von Sander ausgehenden Traditionslinien fotografischer Serien zu Berufsgruppen und entwickeln sie zudem auf mehreren Ebenen weiter: Denn indem Kemsa, die wie Sander alle Personen en face porträtiert, ihre Gegenüber während der filmischen Aufnahme wir für eine Fotografie posieren lässt und zudem mit einer langsam rotierenden Kamera arbeitet, überführt sie eine mit Sander vergleichbare Bildkonzeption nicht nur medial in den Film, sondern reflektiert sie zudem auf verschiedenen Zeitebenen. Die „Moving Portraits“ präsentieren sich als doppelt bewegte Bilder, die Kemsa sowohl auf einer fotografischen als auch auf einer filmischen Ebene zeitlich aufgeladen hat: Sie scheint einerseits dem fotografischen Bild Zeit zurückzugeben und andererseits dem filmischen Bild durch die Kamerabewegung eine zusätzlich Zeitdimension zu verleihen. Beides greift ineinander und bestimmt Form und Wirkung jedes einzelnen Porträts und der Serie insgesamt.

Inhaltlich erweisen sich die „Moving Portraits“ als ein künstlerisches Projekt, das die Kulturarbeit in Salzburg reflektiert und dabei in mehrfacher Hinsicht zentrale Aspekte der jüngeren Kunstgeschichte und zeitgenössischer Praktiken einlöst. Dazu zählen vor allem der Ortsbezug im Sinne der site specific – sowie der systemanalytische Zugang in der Bedeutung der insitutional critique art. Denn tatsächlich ist jedes Porträt das Ergebnis eines Prozesses, der auf eingehenden Recherchen zu Einrichtungen, ihren personellen Strukturen sowie Kontexten des institutionellen Handelns in Salzburg beruht und Kommunikation sowie Partizipation in den jeweiligen Werkentwurf integriert. Was allerdings zunächst wie eine situative Beobachtung bzw. Reaktion auf eine Institution erscheint, wandelt sich bei intensiverer Betrachtung zu einer immer stärkeren Übertragung in eine eigene raumzeitliche Logik der Künstlerin. Die Realität einer Situation wird dabei in einem Ausmaß dekonstruiert, in dem Kemsa eine neue Bildrealität konstruiert, gleichzeitig ihre Serie zwischen Poetik, Imagination und Melancholie anlegt und die porträtierten Personen in einer ganz speziellen Daseinsform in Erscheinung treten lässt.

 

Kemsas Blick auf Menschen, Räume und Institutionen wirkt ebenso involviert wie analytisch und distanziert. Er ist im gleichen Moment auf ein Individuum und ein System ausgerichtet und überführt Kemsas Beobachtungen in einen transitorischen Zustand, den das Konzept der „Moving Portraits“ in seiner medialen Anlage ebenso konstituiert wie beschreibt. Und genau damit kann die Serie auch viel von der Kultur in Salzburg erzählen ohne etwas von der Faszination zwischen Mozart, den Festspielen und zeitgenössischer Museumsarbeit zu verraten. 

 

in: Moving Portraits, Fotohof, Salzburg 2019