Kay Heymer

 

Gudrun Kemsa, Light and Mind

 

Wir sehen heute eine Gruppenausstellung, die unter dem Begriffspaar Light and Mind Künstlerinnen und Künstler zusammenbringt, die auf jeweils sehr unterschiedliche und eigenständige Weise mit den Medien der Fotografie und der Videotechnik, häufig gestützt durch Computertechnologie arbeiten. Ich danke Gudrun Kemsa dafür, dass sie mich auf dieses Projekt aufmerksam gemacht hat, das sich ihrer Initiative verdankt. Der Titel geht auf ein Buch des amerikanischen Quantenphysikers Arthur Zajonc zurück, dass im Deutschen unter dem Titel „Die Lichtfänger. Die gemeinsame Geschichte von Licht und Bewusstsein“ zuerst 1994 erschienen ist und vor zwei Jahren in dritter Auflage herauskam. Der 2015 verstorbene Neurologe und Hirnforscher Oliver Sacks charakterisierte es mit folgenden Worten:

„Das Buch ist außergewöhnlich, eine umfassende Auseinandersetzung mit einfach allem, was Menschen seit drei Jahrtausenden über Licht und Sehen gedacht haben. Es beschreibt, vereint und kontrastiert Erkenntnisse von Physik, Psychologie, Mathematik und Intuition, von Naturwissenschaft und Kunst und zeigt, dass sie sich ungeachtet ihrer Unterschiede ergänzen. Zajonc bewältigt dieses enorme Unterfangen mit solcher Eleganz, Leichtigkeit und Natürlichkeit, dass man beim Lesen die reinste intellektuelle Wonne und Erregung verspürt.“

Ein Schlüsselsatz von Arthur Zajonc lautet: „Das Licht sehen – das ist eine Metapher für das Anschauen des Unsichtbaren im Sichtbaren, die Entdeckung der feinen Vorstellungsnetze, die unseren Planeten und alle Existenzen zusammenhalten.“ Zajonc spannt hier einen weiten Bogen und deutet auf jene Vielzahl an Darstellungs- und Erfahrungsmöglichkeiten des Lichts hin, mit denen sich die Künstlerinnen und Künstler in dieser Ausstellung auseinandersetzen.

Es geht also um Wahrnehmungsprozesse und nicht so sehr um Geschichten, die in diesen Bildern erzählt werden könnten. Diese Fokussierung auf grundlegende, letztlich abstrakte Erfahrungen lassen gleichsam durch die Hintertür wieder den Anspruch technisch generierter Bilder auf Wahrhaftigkeit aufscheinen, der ja im Diskurs über die künstlerische Fotografie schon seit sehr langer Zeit über Bord geworfen worden ist. Wir alle wissen, dass Fotografien – und filmische Bildsequenzen wie Film und Video keinen Anspruch auf Glaubwürdigkeit erheben können und genauso manipulativ und erfunden sein können wie konventionelle Gemälde. Die Konzentration auf Wahrnehmungsprozesse hat aber mit seiner bei aller Subjektivität doch wahrhaftigen Empfindung und Sinneswahrnehmung zu tun, der sich Betrachter und Betrachterinnen angesichts dieser Arbeiten ausgesetzt sehen. Und mehr noch: die Anregung unserer sinnlichen Wahrnehmung ist auch eine Beschwörung der Gegenwart – im Duchamp’schen Sinne trägt der Betrachter zu 50% zur Erschaffung des Kunstwerks bei, und sein Beitrag ereignet sich immer in einer Gegenwart, die bei jeder Betrachtung neu sein muss. Damit das so funktioniert, müssen die Bilder eine Ausstrahlung und Faszinationskraft haben, die immer wieder neugierig macht und zum erneuten Sehen herausfordert – ein gutes Bild ist eben nicht nur eine Wanddekoration, die nicht weiter auffällt oder stört, sondern es ist im Gegenteil ein Objekt, das Aufmerksamkeit beansprucht, neugierig macht und uns von dem ablenkt, was wir sonst so gerade vorhaben oder tun. Vielleicht haben deshalb nicht so viele Menschen Kunst in ihren vier Wänden, weil sie auf Dauer etwas anstrengend sein kann. Die anstrengende Zumutung guter Bilder kann sich sehr unterschiedlich manifestieren – immer haben sie jedoch etwas Verunsicherndes, etwas, dass wir so noch nicht gesehen haben, mit dem wir zunächst einmal nicht zurechtkommen, das wie eine Bildstörung wirkt, uns an andere Bilder erinnert, die wir mal gesehen haben und nicht vergessen konnten, die uns Räume eröffnen oder eine geschlossene Wand vor uns errichten können. In jedem Fall sind gute Bilder im besten Sinne aufregend.

Wenn sie, wie in dieser Gruppenausstellung, ein grundlegendes Thema umkreisen, sich ihm aus verschiedenen Richtungen nähern, können uns Fragen bewusst werden, die wir an unsere Welterfahrung stellen – wie kann es sein, dass ein flaches, statisches Objekt Raum und Bewegungsimpulse auslöst – was ist daran wahr und was Täuschung? Kommen wir den Dingen oder den Menschen – wenn sie denn dargestellt sind – nahe, oder bleiben sie in einer unüberbrückbaren Distanz von uns entfernt? Warum lösen bestimmte Bilder Gefühle in uns aus, die wir möglicherweise gar nicht in Worte fassen können? Was haben diese offensichtlich doch erfundenen oder konstruierten Bilder denn mit Wahrhaftigkeit zu tun? Können wir sehen, dass wir sehen?

 

Es geht darum, den jeweils sehr originellen und eigenwilligen Methoden der Bildfindung dieser Künstlerinnen und Künstler auf die Spur zu kommen, und dafür muss man in jedem Fall seine Wahrnehmung und seine Fragestellung neu einjustieren. Das ist eine Herausforderung – nein, es sind so viele Herausforderungen, wie Künstlerinnen und Künstler hier ausstellen. Es ist eine Herausforderung an Sie alle, denn ich kann und will nichts weiter erklären. Lassen Sie sich faszinieren, es lohnt sich immer! Diese Künstlerinnen und Künstler sind weit mehr als bloße Lichtfänger, sie eröffnen und im Idealfall neue Welten und neue Wahrheiten.

 

Kay Heymer, aus einer Rede anlässlich der Eröffnung der Ausstellung von Gudrun Kemsa in der Galerie Lausberg, Düsseldorf, 05. November 2021.