Ludwig Seyfarth

 

Alle Bilder sind bewegt

 

„Moving Images“, „Bewegtbilder“, ist ein Sammelbegriff aller Bildmedien, bei denen Bilder vor unseren Augen einem zeitlichen Ablauf folgen. Die Abgrenzung einzelner Medien voneinander steht immer mehr in Frage – angesichts der heute omnipräsenten digitalen Bildproduktion und -bearbeitung.

Gudrun Kemsa verwischt nicht nur die Grenzen der Bildmedien, sondern auch diejenige zwischen statischem und bewegtem Bild. Neben Aufnahmen, die etwa Straßenszenen in verschiedenen Metropolen scharf und detailgenau ins Bild setzen, entstehen Fotografien, bei denen die Künstlerin die Kamera sehr schnell am Motiv entlang bewegt. Dadurch ergeben sich Verwischungen wie bei der schnellen Bewegung eines Pinsels über die Leinwand.

Ist das Resultat einer Bewegung der Kamera nicht auch ein „Moving Image“? Und gibt es nicht auch statische Bilder im Film? In Stanley Kubricks Film „Barry Lindon“ etwa sind die Filmsets in Anlehnung an historische Malereistile inszeniert. Dabei lassen langsame Fahrten durch Landschaftspanoramen die Kamera wie ein Auge erscheinen, das sich langsam über ein Gemälde bewegt.

Annäherungen an die Malerei finden wir auch in der Geschichte der Fotografie immer wieder, insbesondere um 1900. Verwischungen und Unschärfen wie auf den ersten Fotografien, die später durch kürzere Belichtungszeiten vermieden werden konnten, wurden nun absichtlich eingesetzt, um Lichteffekte nachzuahmen, wie sie auf impressionistischen Bildern zu finden sind.

Man könnte Gudrun Kemsas verschwommene Landschaften in dieser Tradition sehen, doch statt einer stilistischen Annäherung an Vorgaben der Malerei wird die Grenze zum bewegten Videobild fließend. Denn Kemsas „Moving Images“ sind auch Videofilme, bei denen ähnlich verwischte Motive wie auf den Fotos in der Bewegung zu sehen sind.

 

Gibt es überhaupt Bilder, denen keine Bewegung zugrunde liegt? Schließlich beruht jedes gemalte Bild, jede Zeichnung und jedes Foto auf einem zeitlichen Prozess, der im Bild gleichsam gespeichert ist. Dieser kann sehr kurz oder sehr lang sein, wie etwa die Zeitspanne der fotografischen Belichtung. Manches, was wir auf den durch sekundenschnelle Bewegungen entstandenen Bildern von Gudrun Kemsa sehen, erinnert in seiner Unschärfe an Einschreibungen des Lichts, wie sie sich während der bis zu zwei Jahren dauernden Langzeitbelichtungen von Michael Wesely abgezeichnet haben. „Abgezeichnet“? Einer der Pioniere der Fotografie, Henry Fox Talbot, nannte sie den „Pencil of Nature“: Statt der menschlichen Hand führt die Natur selbst den Zeichenstift. Gudrun Kemsa macht die Kamera zum Zeichenstift und zum Pinsel. So nimmt sie den Stift der Natur gleichsam selbst in die Hand.

 

 

in: Floating Spaces - Gudrun Kemsa, Verlag Kettler, Dortmund, 2024, S.124.