Matthias Dachwald

 

FLOATING SPACES

 

„Ich misstraue nicht der Realität, von der ich ja so gut wie gar nichts weiß, sondern dem Bild von Realität, das uns unsere Sinne vermitteln und das unvollkommen ist, beschränkt. (…) Ich kann über Wirklichkeit nichts Deutlicheres sagen als mein Verhältnis zu Wirklichkeit, und das hat dann was zu tun mit Unschärfe, Unsicherheit, Flüchtigkeit, Teil-
weisigkeit …“

Gerhard Richter1

 

 

I. Fotografie

 

Malerische, impressionistisch anmutende Farbbilder einer frühherbstlichen Waldlandschaft. Gelbliche, rötliche und grüne Blätter vom Wind bewegt. Baumstämme, die sich vertikal unscharf in den Bildausschnitt drängen. Kein Rand scheint gegeben, das Bild öffnet den imaginären Blick nach links und nach rechts, nach oben und nach unten. Der Betrachtende steht gleichsam still inmitten der Szenerie, ist eingetaucht, wird Teil der Waldlandschaft. Der Werkzyklus Forest aus dem Jahr 2023 steht im Zentrum des vorliegenden Fotobuches. Es ist die jüngste Werkgruppe Gudrun Kemsas und ihr neuestes Experiment, das bewegte Bild als Fotografie zu fixieren. In diesem Zyklus bewegt sie die Kamera nicht mehr wie bisher horizontal, um die Bewegung des Auges in der Landschaft zu simulieren, sondern vertikal, also von oben nach unten bzw. umgekehrt. Der dabei erzeugte Effekt ist frappierend anders als die horizontale Bewegung und bereichert nicht nur die Bildgestaltungsmöglichkeit der Künstlerin, sondern erzeugt auch beim Betrachtenden eine völlig neue Bildraumwahrnehmung. Statt eines dynamischen Eindrucks, der sich einstellt, wenn man die Landschaft aus einer simulierten horizontalen Bewegung, etwa dem Zug oder dem Auto, heraus betrachtet und diese somit gleichsam an einem „vorüberzieht“, entsteht in der vertikalen Bewegung des Fotoapparates ein eher meditativer, aber dennoch vibrierender Bewegungs-eindruck. Es ist, als hörte man tatsächlich das Rascheln der Blätter, das Rauschen der Bäume, während auf der visuellen Ebene das Bild in seiner „verwischten“ Abstraktion malerischer wirkt, als in der Dynamik der horizontal eingefrorenen Bewegung. Gudrun Kemsa spielt mit unserer Wahr-nehmung, sie erweitert unsere Sehgewohnheiten und sucht hierfür immer neue Möglichkeiten mit den Mitteln der Fotografie und des Videos.

 

Die Künstlerin hat an der Kunstakademie Düsseldorf bei Karl Bobek und David Rabinowitch Bild-hauerei studiert und ist dort bereits intensiv mit Fotografie in Berührung gekommen. Es mag zunächst ungewöhnlich erscheinen, dass eine Bildhauerin zu einer so herausragenden fotografi-schen Bildgestalterin wird. Doch betrachtet man die Zeit ihres Studiums in Düsseldorf zwischen 1980 und 1990 genauer, dann ist die Verwunderung vielleicht gar nicht mehr so eminent. In einer Parallelklasse unterrichteten zu diesem Zeitpunkt Bernd und Hilla Becher und, dass Studierende untereinander Austausch haben ist evident. Aber vermutlich lag in jener Zeit auch kein anderes künstlerisches Medium so dominant in der Luft wie die Fotografie, zumal in Düsseldorf.

 

Denn in den 1980/90er-Jahren vollzog sich auch in Deutschland der Schritt, die Fotografie als eigenständiges künstlerisches Medium ernst zu nehmen. Da Kemsa schon durch ihren ehemaligen Kunstlehrer fotografisch vorgebildet war und vor allem, wie sie selbst sagt, von Prof. Theissing an der Akademie ganz wichtige Impulse erhalten hatte, ist es vielleicht nur konsequent, dass sie die bildhauerische Raumwahrnehmung auf ihre Fotografie und das bewegte Bild übertrug. In einer weiteren Parallelklasse Gerhard Richter ebenfalls an der Akademie lehrte, der wiederum sein malerisches Werk bereits sehr früh aufs Engste mit der Fotografie verknüpfte. Kemsas Interesse die Konstruktion des Sehens zu hinterfragen und den Raum der Wahrnehmung zu erweitern, ist stilprägend mit ihrem Werk verflochten: Floating Spaces, wie im vorliegenden Fotobuch findet die Künstlerin in den Stadt- und Naturlandschaften, in der Architektur, dem Wald, dem Meer, dem Himmel und in den Grenzbereichen dazwischen.

 

 

II. Bühnenraum

 

Wer die bisherigen Arbeiten Gudrun Kemsas kennt, der weiß vor allem um ihre Adaptionen des Stadtraumes. Streetphotography im weitesten Sinne des Begriffes. Dabei geht es Gudrun Kemsa nicht darum, zu dokumentieren, das Leben auf der Straße abzulichten wie etwa Garry Winogrand oder Henri Cartier-Bresson, auch geht es ihr nicht darum, Architektur darzustellen wie etwa Lucia Moholy-Nagy in ihren Bauhaus-Darstellungen. Ihr geht es vielmehr darum, die Stadt als Bühne zu betrachten und zu beobachten, wie sich auf dieser Bühne die Figuren, die Architektur und das Licht zu einander verhalten. Verstehen wir die Stadt – und vor allem die Großstadt – als den Raum des gesellschaftlichen Austausches und des Miteinanders der vielen heterogenen sozialen Gruppen, dann ist die Stadt der Ort des Aushandelns großer kommunikativer Prozesse. Darauf verweisen die allermeisten Abbildungen der Streetphotography: Das Aufeinanderprallen des geballten Lebens in all seiner Unterschiedlichkeit. Nichts davon finden wir in den Bildern von Gudrun Kemsa. Ihre Bilder der Stadt zeigen eine fast schmerzende Kommunikationslosigkeit. Die Menschen, die in ihren Bildern auftauchen sind Subjekte die wenig bis nichts miteinander zu tun haben. Sie wirken wie zufällig ins Bild gefallen, als wüssten sie nicht, was sie dort an dem Ort, an dem sie sind, machen sollen, ja als gehörten sie gar nicht dorthin. In dem Bild Berlin, Friedrichstraße 2, aus dem Jahr 2020 (S. 48f,) ist die zentrale Figur vor dem „Mauermuseum“, der Prototyp dieses Stadtmenschen. Wartet er, sucht er oder beobachtet er etwas? Wir wissen es nicht. Trotzdem das Bild keine ihrer Figuren hervorhebt (schon das unterscheidet sie von der klassischen Streetphotography), also zutiefst neutral angelegt ist, wird der Mann in der Mitte zum Zentrum des Bildes jedoch nur deswegen, weil er genau in der Bildmitte steht. Er ist also zufällig da und zufällig im Zentrum. Eine Adaption unseres heutigen Lebensstiles? Wir sind da und sind genau deswegen im Fokus unseres Selbst und doch sind wir nur einer, oder eine unter vielen? Während wir also dergestalt in der Spätmoderne auf uns selbst fokussiert sind, bewegt sich die Welt an uns vorbei.

 

Ein weiteres Kernelement der Streetphotography ist ihre Zufälligkeit, die Bilder Kemsas entbehren diese Eigenschaft. Ganz im Gegenteil, alles scheint konstruiert und inszeniert zu sein, ohne dass die Beteiligten um diese Inszenierung wissen. Sabine Maria Schmidt weißt in ihrem Essay in diesem Buch darauf hin, dass die Stadt eine Projektionsfläche ist und die Personen in den Bildern der Künstlerin zu raumkonstituierendem Faktor werden. Gleichzeitig wirken die öfentlichen Räume „eines international homogen gewordenen ‚urban style‘“2 – egal ob in New York, London oder Düsseldorf – stereotyp: „Alles in dieser Welt scheint durchsichtig und transparent geworden, die Visionen der Moderne zur Realität.“3 Die Bild-Inszenierungen, die uns Gudrun Kemsa mit ihren Aufnahmen in den Großstädten schenkt, spielen vor transparenten, spiegelnden Flächen mit scharfen Kanten. Fotografien mit wenig Bildtiefe. Sie zeigen und adaptieren die glänzenden Oberflächen der Konsumwelt, in der der Mensch zum Statisten wird. Das Theater, das ja genuin für den Topos Bühne steht, behandelt literarische Texte, die von Schauspieler*innen umgesetzt werden. Die urbane Bühne, die uns Gudrun Kemsa präsentiert, basiert nicht auf einer literarischen Vorlage, sondern auf einer der Konsumwelt und einer der Bewegung. Neben den spiegelnden Flächen der Warentempel werden die Transit-Orte der Großstadt, die Bahnhöfe, zur Bühne ihrer Ablichtungen. In ihren architektonischen Rasterungen und Rhythmisierungen gerät die Zeit selbst in den Fokus. Züge kommen und gehen, Menschen steigen zu und verlassen die Transportmittel –
warten. Alles an diesen Orten ist darauf ausgerichtet, dass man sich nur kurz hier aufhält. Das Ziel ist so schnell wie möglich wegzukommen. Das Temporäre und die Bewegung ist diesen Orten also eingeschrieben und entsprechend verhalten sich die Menschen. Eine Beziehung zum anderen (Wartenden) ist auch in diesen Bildern nicht ersichtlich. Bezugslos stehen die meisten Passanten nebeneinander. Während wir soziologisch diese „Meltingpoints“ als die pulsierenden Orte des gesellschaftlichen Lebens lesen, entlarven die Fotografien der Künstlerin diese Orte als Räume des beziehungslosen Interims.

 

 

III. Licht

     

Licht, Raum und Bewegung sind die zentralen Elemente im Werk von Gudrun Kemsa. Die Bühne, die Gudrun Kemsa in ihren Straßenfotografien bereitet, ist in gleißendes Licht getaucht. „Es ist vor allem das Licht, dass zum formalen Strukturelement generiert, als müsse sich die Architektur dem Licht unterordnen.“4, schreibt Sabine Maria Schmidt in ihrem Essay und verweist damit auf die Bedeutung, die dem Licht in den Bildern Kemsas zukommt. Die Arbeit mit dem Licht ist in ihrer Fotografie ein zentraler Punkt, vielleicht sogar Ursprung ihrer Fotografie schlechthin. Während ihres Aufenthaltes in Rom 1993 beobachtete sie die Wanderung der Sonne und was das Licht an Veränderung im Raum mit sich bringt, wenn man es zu unterschiedlicher Zeit auf ein Foto bannt. Diesen Studien aus dem Pantheon, zunächst noch in Schwarzweiß aufgenommen, folgt schon bald der bewusste Einsatz des Sonnenlichts in ihren Aufnahmen. Während ihres Aufenthaltes in der Villa Massimo 1996/97 arbeitet sie mit Farbfotografie und -video und beobachtet das Sonnenlicht auf den Säulen von St. Peter. Ihre späteren Straßenbilder von New York entsehen im Spätsommer zur Nachmittagszeit, wenn die Schatten länger werden und die Sonne aufgrund der Jahreszeit sehr tief steht, wenn ihr Licht in die Straßenschluchten einfällt. Auch die Aufnahmen aus Berlin, Düsseldorf, Köln und London entsprechen diesem Vorgehen. Die Sonne übernimmt die Funktion eines Theaterscheinwerfers, der die Bühne für ihre Fotografie beleuchtet.

 

Das Licht in den Werkserien der Küsten- und Meeresaufnahmen ist dagegen ein völlig anderes als in den Straßenfotografien. Während sie in den Straßen das harte Licht und die starken Schatten sucht, wird bei den Aufnahmen am Meer in der Dämmerung die spezielle Farbigkeit des Sonnen-untergangs zum bildleitenden Ausdrucksmittel. Die Farbigkeit von Himmel und Meer verschwimmt ähnlich vom Bildrand oben und unten zum Horizont hin. Natürlich ist das der Effekt der sich reflektierenden Wasseroberfläche, die jedoch zum Teil durch die Unschärfe in der Wasserober-fläche aufgehoben wird. Zentraler Blickpunkt ist der Horizont. Rolf Sachsse verweist in seinem Essay auf den Horizont als unhintergehbare Grenze der eigenen Wahrnehmung5. Für Gudrun Kemsa, die ja gerade diese Wahrnehmung bis an die Ränder ausloten will, muss diese Erkenntnis quälend sein und doch ist für die Weite, die in diesen Bildern liegt, vielleicht gerade diese visuell inhärente Grenze akzeptabel?

 

Was die Farbigkeit der Sonnenuntergänge noch zu verbergen scheint, offenbaren die Meeresbilder Bensersiel 2, 9 und 12 (S. 90ff) die einen monochrom wirkenden blassen graublauen Farbton zu eigen haben: Raum! Keine Ablenkung dieses Raumes trifft den Betrachtenden, keine übertriebenen aggressiven Farben, keine Bewegung entführt uns, kein Mensch zieht die Aufmerksamkeit auf sich. Nur Fläche formt die Fotografie, strukturiert durch ein paar Linien. Wir treten als Rezipienten in den Bildraum und damit in Kontakt mit den Raum und uns selbst. Was die Szenen der Urban Stages ihren Figuren zu verweigern scheinen, nämlich die Kommunikation, beginnt sich nun – im vom Mensch emanzipierten Bild – zu entfalten, gerade weil die Konzentration auf den ablenkungsfreien Raum gelotst wird und dieser sich so der Zwiesprache zu öffnen vermag. Fast fühlt man sich an Arno Schmidts Ausruf erinnert „lieber ein Himmel ohne Götter als ohne Wolken!“6 – in unserem Fall mit einer möglichst gleichmäßigen Wolkendecke.

 

 

IV. Bewegung

 

Die gleichmäßige Fläche des Meeres adaptiert die Weite des Himmels, dabei ist das Meer selbst ja beständig in Bewegung. Da die Fotografin aber ebenfalls ihre Kamera aus der Körperdrehung bewegt, hebt sich die Bewegung des Meeres auf und transformiert zur in sich ruhenden Fläche. Ihr Werk oszilliert zwischen dem bewegten Bild des Videos und dem statischen Bild des Fotos hin und her, wobei Kemsa jeweils genau das aufzunehmen scheint, was in Anbetracht der technischen Möglichkeiten eigentlich dem jeweils anderen Apparat spezifisch zu eigen wäre. Mit dem Fotoapparat bewegt sie sich vertikal und horizontal, schwebend und kreisend, um die Welt im Bild zu bewegen, während sie mit der Videokamera statisch verharrt und die Welt sich bewegen lässt. In diesen beiden künstlerischen Verfahren erhält sie jedoch einen Ausschnitt aus der Wirklichkeit, der jeweils eigenen ästhetischen Gesetzen zu folgen scheint und dem Ansinnen der Künstlerin, den Wahrnehmungshorizont zu erweitern, gänzlich folgt.

 

So wie Gudrun Kemsa Raum, Licht und Bewegung im Bild modelliert, scheint es, als hätte sie die Fotografie und das Video um eine weitere Nuance erweitert - oder aber als hätte sie das bildhauerische Modellieren auf die Fotografie übertragen. Sie konstruiert Bildräume, meißelt mit Licht an Strukturen und verflüssigt statische Formen durch Bewegung. Dadurch tritt die Form in den Vordergrund der Fotografie, die Details lösen sich auf, werden unwichtig. Trotz der Unschärfe,

sehen wir die Dinge klarer, so paradox das klingt. Und auch der Stadt-raum, der im ersten Blick noch durch die Luxusgeschäfte okkupiert wird, lässt bei genauer Betrachtung die Gestaltung des Raumes als Bühnenbild, inklusive der Figuren, in den Vordergrund treten und baut Spannungs-bögen zwischen diesen Figuren, der Architektur und den Lichteffekten. In den Videos mutiert die kontinuierlich gleichmäßige Bewegung des Filmes zu einem einzigen Bild, oder aber kreiert nahezu surrealistische Formen auf Grundlage ganz realer Abbildungen - und auch das klingt wieder paradox. Gudrun Kemsas Werk abstrahiert die Fotografie und das Video mit den Mitteln der Fotografie und des Filmes, um die Wahrnehmung des Rezipienten zu erweitern. Die Mittel, die sie dabei wählt sind den technischen Möglichkeiten der Apparaturen immanent. Die gedankliche Annäherung dazu scheint jedoch den Kompositionsprinzipien dreidimensionaler Körper wie in der Bildhauerei zu entstammen. Und so schließt sich der Kreis.

 

 

1  Gerhard Richter. Text. Schriften und Interviews, hrsg. von Hans Ulrich Obrist.

    Leipzig und Frankfurt a.M. 1993, S. 69.

2    Sabine Maria Schmidt, Die Stadt als Bühne, 2013 (ÜA 2024) S. 30ff.

3    ebd.

4    ebd.

5    Rolf Sachsse, Liquide Räume. Mediale Räume im Werk von Gudrun Kemsa, 2024,

    S. 67.

6    Aus: Arno Schmidt, Gardir oder Erkenne Dich selbst, 1949

 

in: Floating Spaces - Gudrun Kemsa, Verlag Kettler, Dortmund, 2024, S.8.