Rolf Sachsse

 

Liquid Spaces: Mediale Räume im Werk von Gudrun Kemsa

 

Wer die Straßenbilder von Gudrun Kemsa aus Düsseldorf, London, Berlin und anderen Metropolen dieser Welt anschaut, wird unmittelbar an die flüssige Moderne des Historikers Zygmunt Bauman erinnert: Die Menschen stehen und sitzen vereinzelt da, maximal in Zweiergruppen; sie schauen in eine unbestimmte Ferne oder auf ihr Smartphone, sie sind in Habitus und Kleidung individuell und bilden somit keine Gesellschaft ab; die Bühne ihres Auftretens – das Trottoir im alten Wortsinn als ‚Bürgersteig‘ – hat keinen Bezug zu den Auslagen der hinter ihnen sichtbaren Geschäfte. Bauman beschreibt die Verflüssigung des Modernen durch Prozesse der Auflösung von bislang feststehen-den Bedingungen der Gesellschaft; der Blick verschiebt sich vom ‚Makro‘ des Zusammenlebens auf ein ‚Mikro‘ der Individuen, ganz wie es anderthalb Jahrzehnte später der Soziologe Andreas Reckwitz in seiner „Gesellschaft der Singularitäten“ beschreibt. Was die Bilder von Gudrun Kemsa hier zeigen, entspricht der Verflüssigung – und dabei auch Entgrenzung – des Raums durch die Nutzung von Medien: Selbst wenn die jungen Männer vor dem flagship store eines Medien-konzerns stehen, hat ihr Blick auf das eigene Smartphone mit den Geschäftsräumen nichts zu tun (S.18). Gerade, weil die Kamera statisch den Raum eingrenzt, sind alle Bewegungen in ihm bis in kleinste Teile aufgelöst, und diese Mikro-Ereignisse haben untereinander keinen Zusammenhang, außer dass sie in dieses Bild geraten sind. Darin aber zeigt sich die Kunst von Gudrun Kemsa: Was auf ihren Bildern zu sehen ist, schafft einen fremden – mit Michel Foucault heterotopen – Raum der Imagination von dem, was sein könnte, wenn ich als Betrachter*in dort stünde. Das Fluide solcher Räume besteht aus den kleinsten Partikeln in chaotischer Dauerbewegung; da mag der äußere Rahmen noch so streng, eng und gefasst sein. Eine Andeutung dieser Bewegung wird in Gudrun Kemsas Videos sichtbar, die es zu ähnlich strengen Raumvorgaben gibt.

 

Doch die Künstlerin erschafft noch ganz andere, ebenso flüssige Bildräume, diesmal durch ihre Eigenbewegung, an der sie die Kamera teilhaben lässt. Präzise werden Durchquerungen von Räumen – vornehmlich öffentlichen, oft allseits bekannten – aufgezeichnet, wobei die Bewegungen horizontal verlaufen, meist gerade, seltener in einer vorab definierten Kurvatur. Wieder ist der Raum liquide, doch ist die Verflüssigung des Räumlichen diesmal das Produkt einer medialen Verfahrenstechnik, nicht Teil eines Motivs. Hier erfindet Gudrun Kemsa fotografisch die Landschaftsmalerei neu und reduziert sie auf einen wesentlichen Aspekt: Der Rahmen des Bildes ist willkürlich gesetzt, die abgebildete Landschaft kann jedoch im Kopf der Betrachter*innen nach allen Seiten, vor allem aber nach rechts und links unendlich fortgesetzt werden. Hier begrenzt der Bildrahmen nur noch das Flüssige des Raums, dies aber doppelt: zum einen als zeitliche Begrenzung der Aufnahme durch die Künstlerin, zum anderen als nachvollziehende Bewegung der Augen bei der Betrachtung des fertigen Kunstwerks. Diesen anderen, aber in seiner Zeitlichkeit ebenso liquiden Bildraum hat Michail M. Bachtin einst als Chronotopos bezeichnet und für alle mediale Produkte gleichermaßen als bestimmend gewertet. In der Verflechtung einer – auf Erinnerung beruhenden – Erkennbarkeit der Bildmotive sowie ihrer – in der Geschwindigkeit unbestimmbaren – bewegten Darstellung erweisen sich die oft großformatigen Werke als radikal modern, weil sie auf Bewegungs-Erfahrungen zurückführen, die nur in der Moderne zu haben sind: Eisenbahn, Fahrrad, Skateboard und andere lineare Fortbewegungsmittel.

 

Noch radikaler wird die Bewegung in der Senkrechten, wie in den ‚Forest‘-Bildern von Gudrun Kemsa. Zwar entspricht die Betrachtung eines Waldes der vertikalen Blick-Verschiebung von unten nach oben und zurück, doch irritiert hier das Mitziehen einer Kamera – ein in der Filmgeschichte durchaus häufig genutzter Effekt zur Darstellung von etwas Unheimlichem. Er ist wiederum als Chronotopos in die Theorie der computer games eingegangen und wird dort zur Konstruktion dramatischer Elemente als Raumerfahrung im Spielverlauf eingesetzt. ahrnehmungsphysiologisch werden vertikale Bewegungen immer als beunruhigend empfunden; für den Savannenläufer Urmensch lauern die Gefahren immer ganz unten oder ganz oben, während der Horizont – solange er sichtbar ist – die Orientierung in der Landschaft ermöglicht. Auch wenn die ‚Forest‘-Bilder bei bestem Sonnenlicht aufgenommen worden sind und in gelbbraunen Tönen fröhlich strahlen, bleiben sie doch aufregend, weil der Raum in ihnen auf eine Weise verflüssigt wird, die nicht den täglichen Verhaltenserwartungen entspricht.

 

Das Gegenteil ist am Meeresufer der Fall: Alles ist ruhig, alles ist flüssig, und gelegentlich verschwimmt der Horizont. Das entspricht genau dem Bild von Stefanie Wenner, die den Horizont als selbst nicht räumlich, aber als unhintergehbare Grenze der eigenen Wahrnehmung gerade die Körperlichkeit der Betrachtenden betont. Das Paradoxon, dass wir nicht wissen können, was hinter dem Horizont liegt und dennoch ihn als beruhigend empfinden, verflüssigt einmal mehr den Raum in den Bildern von Gudrun Kemsa. Hinzu kommt, dass sie als Aufnahmezeit die Dämmerung wählt, jenes Zwischenreich von Tag und Nacht, das gerade in der Fotografie eine romantische Verklärung erfährt. Genau hier erfährt das Liquide des Raums eine jähe Begrenzung: Die jeweilige Lichtsituation existiert nur für wenige Minuten und muss exakt dann eingefangen werden. Die Kamera – und mit ihr die Künstlerin – bleibt in Bewegung, ein weiteres Paradoxon, denn gerade die Bewegung erzeugt ein ruhiges Bild. Das gilt vor allem für den Himmel, der sich als chromatische Farbfolge präsentiert und auf eine lange malerische Tradition von Matthias Grünewald über Caspar David Friedrich bis Raimer Jochims oder Jef Verheyen verweist.

 

Liquide Medienräume lassen sich in den umfassenden Interessen der Künstlerin Gudrun Kemsa auch über ihren Gebrauch definieren, und so hat sie sich innerhalb ihrer eigenen Werk-Entwicklung mehrfach mit medial überformten Räumen wie etwa touristischen Resorts beschäftigt. Hier hat sie sich in bewährter Weise horizontal bewegt, also dem intendierten Gebrauch der Räume als Ruhezonen zuwider gehandelt; dafür sind die Räume auch menschenleer und oft ebenfalls in der Dämmerung aufgenommen worden. In den Video-Arbeiten, die diese Bilder stets begleitet haben, tauchen nun noch weitere Raumformen auf, die zunächst nicht wie eine Verflüssigung des medialen Bildes wirken, jedoch kaum weniger fassbar sind als liquide Formen: Hier werden Äste und Blätter kaleidoskop-artig gespiegelt, bewegen sich ununterbrochen aufeinander zu und voneinander weg, zeitlich wie räumlich ohne Anfang und Ende.

 

Am Ende der Reise durch das vorliegende Buch jedoch kehrt Gudrun Kemsa wieder dorthin zurück, wo der Kampf der Fotografie um die Anerkennung als bildender Kunst begonnen hat: in den Blick auf Licht und Schatten auf Wasser-Oberflächen. Mit ebensolchen Motiven hat Otto Steinert nach 1945 begonnen, die Fotografie über die zeitgemäße Abstraktion in die Kunst einzuführen – und viele seiner Schüler*innen sind ihm darin gefolgt. Nur sind die Bilder von Gudrun Kemsa farbig, oft hell, in ihrer Zeitlichkeit klar definiert, und damit prima vista völlig anders als Steinerts Versuche einer subjektiven Gestaltung. Die Endlosigkeit des möglichen Bildraums teilen sie mit ähnlichen Motiven bei Detlef Orlopp, doch der hat sich weder um Farbe noch explizit um Licht-Ereignisse gekümmert, weil er an scharf begrenzten Flächen, also deutlich definierten Bildräumen interessiert war. Für Gudrun Kemsa bleiben nun auch die alten Motive der Fotografie selbst wieder in einem medialen Raum, sie reflektiert als Künstlerin die Geschichte des Mediums in ihrer Arbeit mit – und lässt auch diesen Raum flüssig bleiben, unbegrenzt und für jede neue Ausformung bereit.

 

1  Bauman, Zygmunt: Liquid Modernity, Cambridge: Polity Press 2000, S. 7.

2  Reckwitz, Andreas: Gesellschaft der Singularitäten, Berlin: Suhrkamp Verlag 2019.

3    Foucault, Michel: Andere Räume, in: Barck, Karlheinz; Gente, Peter; Paris, Heide; Richter, Stefan (Hg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig: Reclam Verlag 1990, S. 34-46.

4  Kemsa, Gudrun: Bewegte Bilder, Köln: Markus Schaden Verlag 2003.

5  Bachtin, Michail M.: Chronotopos, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1973 (Berlin 2014).

6   Bonner, Marc: Offene-Welt-Strukturen. Architektur, Stadt- und Naturlandschaft im Computerspiel, Marburg: Büchner-Verlag 2023, S. 693-718.

7   Wenner, Stefanie: Die Atopie des Horizonts und die Erweiterung des Hier. Medienphilosophische Erkundungen, in: Schade, Sigrid, Thomas Sieber, Thomas, Tholen, Georg Christoph (Hg.): Schnitt Stellen, Basler Beiträge zur Medienwissenschaft Band 1, Basel: Schwabe Verlag 2005, S. 379-388.

8   Sachsse, Rolf: Kunstfotografisches Zwielicht. Eine kleine Geschichte der Dämmerungsfotografie, in: Fotogeschichte. Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie 23. Jg. 2003, Heft 89, S. 3-12.

9   Schönegg, Kathrin: Fotografiegeschichte der Abstraktion, Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König (Diss. phil. Konstanz) 2019, S. 271.

 

10 Ebner, Florian (Hg.): Ausst.Kat. Detlef Orlopp, Nur die Nähe – auch die Ferne, Fotografien, Göttingen: Steidl 2015, S. 73-115.

 

 

in: Floating Spaces - Gudrun Kemsa, Verlag Kettler, Dortmund, 2024, S.67.