Sabine Maria Schmidt 

 

Die Stadt als Bühne

 

Wer heute beobachtet – und das fast überall auf der Welt – wie Amateuraufnahmen gemacht werden, sieht, dass kaum noch Bilder entstehen, in der sich die Fotografierenden nicht selber abbilden und dabei die Welt als Bühne, die Stadt, das Objekt als Kulisse, als Background für ihr eigenes Portrait verwenden. Es scheint mittlerweile weniger das Interesse an den Objekten, dem Beobachteten selbst (das ja schon so oft fotografiert wurde), als die Entdeckung eines neuen oder weiteren Hintergrundfonds für die eigene Person. Als Lebensraum ist die Stadt gedacht für Men-schen, die sich nicht persönlich kennen und dennoch in ausgearbeiteten sozialen Gesellschafts-formen ein gutes Leben miteinander führen. Immer war sie als Projektionsfläche für Vorstellungen von einem idealen Leben konzipiert. Bereits aus dem 15. Jahrhundert kennen wir konzeptuell-konstruierte Stadträume, die den Rahmen für eine humanistische Gesellschaft versprachen und in ihrer theatralischen Inszenierung Bühnenbildern glichen.

„Urban Stage“, so der Titel der Ausstellung* von Gudrun Kemsa: Das suggeriert eine Abkehr vom ausschließlichen Blick auf die Architektur hin zum urbanen Bühnengeschehen. Doch für welche Art Theater? Das des Individuums?

 

Die sogenannte Street-Photography, die „Fotografie der Straße“ gehört neben der Mode-, Werbe- und Atelierfotografie zu den genuin fotografischen Gattungen, die spätestens seit der Erfindung der Kodak-Box von George Eastman 1888 existiert. Gudrun Kemsas Arbeiten gehören im weitesten Sinne zum Genre der Street Photography. Sie arbeitet auf der Straße, in öffentlichen Räumen, wobei hier den Menschen als Statisten und Protagonisten die Rolle der Verlebendigung und eines raumkonstituierenden Faktors zugeteilt wird. Sofort kommen die alten ersten historischen Aufnah-men von Städten in den Sinn, in denen die Passanten aufgrund der lichtschwachen Apparate und der langen Belichtungszeiten der Platten verschwinden. Hier sind sie wieder da. Doch welche Rolle nehmen sie ein? Als zufällige Passanten sind sie zu präsent, inszeniert sind sie nicht, als Staffage-figuren erlaubt die Künstlerin ihnen zu viele Proportionen und Dimensionen. Als typische Vertreter eines Genre im Sinne von Berufsbildern oder Typen sind sie zu disparat, ihre Kleidung und ihr Habitus erlaubt ihnen eine gewisse Zuordnung, die aber dennoch oberflächlich bleibt. Als soge-nannte Wimmelbilder mit zahlreichen kleinen, auch narrativen Szenen sind die Fotografien zu beruhigt, und dennoch haftet den Bildern von all diesen historischen Konnotationen etwas an, so auch die Choreographie von lebenden Bildern, sogenannten „tableaux vivants“.

 

Ähnliches gilt für die Orte. Die Titel der Arbeiten erlauben zwar eine präzise geografische Ver-ortung, dennoch erweisen sich viele Räume als stereotyp wirkende öffentliche Räume eines international homogen gewordenen „urban style“. Alles in dieser Welt scheint durchsichtig und transparent geworden, die Visionen der Moderne zur Realität. Gerade in der neuen Serie ist es vor allem das Moment des Spiegels bzw. der Spiegelung, der mehrfachen und immer wieder sich reflektierenden Realitätsebenen, die eine bildliche Verdichtung finden. Der Spiegel funktioniert zugleich wie ein verdoppelter Blick, der noch andere Perspektiven und Ansichten in die Bildkom-position einbezieht und damit auch eine zeiträumliche Ebene schafft. Zwar fotografiert Kemsa bewusst ausgesuchte Orte, aber es sind keine spektakulären, historisch oder symbolisch aufge-ladenen Orte, die sie in Szene setzt.

 

Die Bilder von Gudrun Kemsa, die ja vorrangig als Videokünstlerin begonnen hat, handeln von Bewegung. Es ist vor allem die Bewegung des Passanten, dessen ureigenste Bewegung des Gehens, die die Faszination der Künstlerin weckt. Meist sind es Menschengruppen, bisweilen auch Einzel-personen, die in öffentlichen, urbanen Räumen im Außenbereich an Straßen, Promenaden, Kreuzungen und Haltepunkten, Plätzen oder Parkanlagen festgehalten sind. In der Serie „Urban Stage“ fokussiert Kemsa die architektonischen Fonds der Hochhäuser, Glasfassaden, Schaufenster, Betonwände und Treppenanlagen. Ihr gelingt eine Rhythmisierung, die sie aus dem Alltagstrott der Menschen und ihrer räumlichen Verortung herausschält. In einigen Aufnahmen entstehen klassische aus der malerischen Bildkomposition stammende Rhythmisierungen, wie wir sie aus der abstrakten Kunst kennen.

 

Gudrun Kemsa hat in den letzten Jahren verschiedenste Werkserien realisiert, die dennoch eng miteinander verzahnt sind. In vielen Fotografien hat sie Labels, Werbung, Straßenschilder in digitaler Nachbearbeitung zugunsten leerer Flächen eliminiert, was zugleich visuelle Beruhigung, als auch Verwirrung schafft. „La Corniche“ ist so ein Bild, das in das Zentrum eine leere Fläche stellt, in diesem Falle aber eine echte vorgefundene Situation festhält; als könnten die  konsu-mistischen Inhalte gelöscht und die Stadt wieder auf ihre ursprünglich räumliche und architek-tonische Verfaßtheit zurückgeführt werden, um damit wieder auf ein Wesentliches zurück-zukommen.

 

In anderen Straßenbildern konstruiert sie die Gleichzeitigkeit von Situationen, die eigentlich nacheinander geschehen sind. Gelegentlich fügt sie Menschen oder Details in ein Bild zusammen, ohne dass eine Montage wahrgenommen werden kann. Besonders typisch ist die Werkserie „Choreographien“, publiziert in dem Katalog „Moving Images“. Diese Spannung zwischen Dokumentation und Fälschung, die mittels der digitalen Techniken einen großen Weg für die Fotografie eröffnet hat, schwingt auch in der hiesigen Ausstellung mit, doch verzichtet Kemsa in diesen Werken vorrangig auf digitale Manipulation.

 

Dabei erscheinen die Menschen wie choreografiert, viele Situationen wie inszeniert. In manchen Fotografien wirken die Figuren fast skulptural, wie lebensechte Rekonstruktionen eines Duane Hanson. Jeder bewegt sich in seiner eigenen Zeit, seinem eigenen Raum. Es fällt die Kommuni-kationslosigkeit auf, die zwischen den Figuren herrscht, die eher das Nebeneinander gewohnt sind. Kommunikation findet auch im Entstehungsprozess nicht statt und ist auch Voraussetzung für die Typisierung der Situationen. Kemsa nimmt keine Beziehung, nicht einmal Blickkontakt zu den Personen auf. So sind auch die näher herangezoomten Aufnahmen der jüngeren Serie „Urban Stage“ aus einer weiten räumlichen Distanz entstanden, die nicht zuletzt für die architektonische und panoramaartige Einbettung der Figuren in ihrem Umfeld nötig ist. Die Distanz überwindet die Kameralinse. Es zählt nicht die Absicht, im Augenblick der Aufnahme da gewesen zu sein. Das hat für die Bildkompositionen keine Bedeutung. Den Standort der Künstlerin nehmen wir in einigen Aufnahmen lediglich durch die Spiegelung der Räume auf. Sie selber ist nie zu sehen. Dennoch bleibt deutlich, dass die Hauptarbeit während der Aufnahme passiert. Das lange Warten auf die richtige Situation, den richtigen Moment, die Inszenierung erfolgt durch den Kamerasucher und den Bildausschnitt und die kurzen Zwischenmomente. Kemsa fotografiert bisweilen auch analog, das bedeutet, dass in der Aufnahmesituation bereits Reduktion und Entscheidung fällt und nicht ein sukzessives, motorisches Aufnehmen zahlreicher Momente, aus denen dann die beste Aufnahme ausgewählt wird.

 

Alles wirkt gleichsam sehr aufgeräumt auf den Bildern. Kein Papierschnipsel, kein Müll, kein Kaugummi, keine Zigarettenkippe findet sich auf den Fußböden. Nichts von der visuellen, akustischen Überreizung der Außenräume.Vielmehr suggerieren sie eine völlig lautlose Stille; „ein außer der Zeit stehen…“. Dadurch erhalten die übrig gebliebenen Verweise wie z.B. Warntafeln (in „Broadway 1“) durch ihre Singularität eine besondere Wertigkeit, vielleicht die einzigen dramatisie-renden Momente in den Aufnahmen. Es gibt keinen Wind, keine zirkulierende Luft in den Bildern, ebenso wie die fehlenden Geräusche auch keine Gerüche, es gibt keine Tiere, nur selten in Szene gesetzte Gegenstände, die Milieuzugehörigkeit definieren.

 

Es gibt auch keine Bedrohung oder eine latente Bedrohung in den Bildern. Auch wenn sich einige Figuren in ihrer Stereotypisierung wie ferngesteuert oder in einem Videospiel verhalten und zahl-reiche Erinnerungen an Science-Fiction-Szenen aufblühen können, finden sich etwa keine Hinweise auf die fast systematische Überwachung des öffentlichen Raumes oder ein Moment von Fern-steuerung durch andere Systeme. Die Kameras, die auf die Straße und Passanten gerichtet sind, bleiben unsichtbar.

 

Der urbane Raum, den Kemsa in ihren Bildern festhält, ist dennoch keine kalte, sondern eine lichtdurchflutete, friedliche Welt. Meist entstehen die Arbeiten in der Mittagszeit, es ist hell, das Licht ist scharf, schafft Kontraste und Schattenwirkungen. Es ist vor allem das Licht, dass zum formalen Strukturelement generiert, als müsse sich die Architektur dem Licht unterordnen. Konturen werden aufgelöst, durch dunkle Verschattungen verdeckt oder scharfe Kanten heraus-gehoben. Dennoch gibt es nicht den sommerlichen Stillstand der Mittagshitze, wie man sie von den Fotografen der amerikanischen Depression wie Walker Evans kennt. Es gibt vielmehr eine optische und präzise Klarheit der Bilder, die von einem kalkulierten, kompositorischen Denken bestimmt sind. Das bezieht sich auf die genaue Definition des Bildraumes, die Linien in der Architektur bzw. Landschaft, die genaue Ausmachung von Fluchtpunkten, die besondere Aufmerksamkeit auf Farben-, Licht- und Schattensituationen, eine flächig angelegte Bildkomposition. Das Konstruierte ihrer Fotografien entsteht nicht zuletzt in der Wahl der extremen Bildformate. Gelegentlich arbeitet sie auch das Farbige und Grelle der Motive heraus. Zugleich gehen die Motive ihrer Fotografien einen Wettstreit mit den inszenierten Bildern der Werbewelt ein, die sich als Manifestationen der Bildverarbeitung und Manipulation generieren. Das Schaufenster als „Kulturfaktor“, den der 1907 gegründete Werkbund proklamierte, ist längst zu einer adäquaten Gegenwelt der Wirklichkeit geworden. Die Passanten stehen nicht mehr vor den Schaufenstern, um diese zu betrachten, sondern sind ein Teil von Ihnen, ebenso wie die Puppen und Werbebilder, die ein eben solches Eigenleben in den Aufnahmen entwickeln wie die Menschen.

 

Der wechselseitige Transfer von filmischen und fotografischen Ebenen in den Arbeiten Kemsas kann an dieser Stelle nur angedeutet werden. Die zweikanalige Videoarbeit „Queens“ (2012) zeigt, wie die Künstlerin an Schnittstellen zwischen Film und Fotografie arbeitet. „Queens“ zeigt eine unendlich wirkende Zugfahrt, die von der Kamera in Echtzeit festgehalten wird. Diese so klaren Erfahrungskontexte von Zeit und Raum werden aber gebrochen, indem die Reise zu einer unendlichen Schleife generiert. Fast kulissenhaftig reihen sich die Häuser, Baustellen, märchen-haften Gebäude aneinander. Völlige Verwirrung schafft die Verdoppelung des Bildes, die durch eine asynchrone Verschiebung erfolgt. Die mediale derart generierte Raumwahrnehmung ist so gänzlich anders als unsere alltägliche, dass Sie eine andere Wahrnehmungsebene einfordert.

 

Auch den Fotos haften „asynchrone“ Verschiebungen an. Viele der Fotos wirken zwar, als wäre kurz auf die Stopptaste gedrückt und ein winziger Moment festgehalten. Dennoch entsteht nicht ein „überzeitlicher“ Moment eines Fotos, wie wir es aus Portraits kennen, in denen eine Gesamtheit einer Person zusammenfasst scheint. Es sind auch keine situativen Momente im Sinne dokumentarischer Erfassung eines konkreten Ereignisses an einem Ort, die festgehalten werden. Es sind subtile Verschiebungen. Die Fotografien von Kemsa sind derart inszenierte Dokumentationen, die nicht zuletzt über ein spezifisches Bilddenken Auskunft geben, das zwischen Film und Fotografie oszilliert.

 

 

 

(Überarbeitetes Textskript der Eröffnungsrede zu Gudrun Kemsa „Urban Stage“ am 1. Februar 2013 in der Galerie Bernd A. Lausberg, Düsseldorf)

 

in: Floating Spaces - Gudrun Kemsa, Verlag Kettler, Dortmund, 2024, S.30.